Reisebericht aus dem Jahre 1989
 Hilde Schramm, geb. Wondrejz +

Ende Juli, Anfang August 1989 haben wir unseren Heimatort Gießhübel nach 43 Jahren besucht und das erste Mal nach dieser Zeit wiedergesehen.

Als wir vom Roten Hügel den Gießhübler Kirchturm sahen, erfüllte uns ein glückliches, aber wehmütiges Gefühl. Vor unserem geistigen Auge entstanden die alten, lieben Erinnerungen der Kindheit und des geborgenen Lebens in der Heimat. Es war wohl alles bescheiden, aber wir waren alle dennoch zufrieden und froh. Das rege kulturelle Leben, der Zusammenhalt der Menschen und die Gemeinsamkeit des Schicksals hatten uns alle zusammengeführt, was ja auch einen Wert darstellt.

Roter Hügel

Als wir am Ringplatz ausstiegen und uns umsahen, kam unsere erste Enttäuschung. Die Häuser waren wohl noch alle da, aber sie ähnelten kaum noch denen, die wir in Erinnerung hatten. Das Hotel Jirku hatte keinen Eingang mehr und wirkte verlassen. Wie wir später erfuhren, ist es eine Forschungsanstalt geworden. Das Gasthaus Märsenger sowie der Fleischerladen boten denselben Anblick. Die Eingänge waren zugemauert und das Haus wohl noch zu Wohnzwecken benutzt. Das Felzmann-Haus daneben wirkte auch so trist. Bei der Scheftner-Bäckerei fehlte ebenfalls der Eingang mit Stiege, beim Geschäftshaus von Richter ebenso Eingang und Schaufenster, wie bei den übrigen. Ein Blick zum Gasthaus Krone vermittelte uns denselben Anblick. Auch der Brauereihof von Migula hatte ein ungepflegtes Aussehen. Unser altes Rathaus (früher Volksschule mit Turm) ähnelte noch am meisten unserer Erinnerung, auch das Haus von Eimann und die Post. Bei einem Blick zwischen die Häuser, wo Familie Hrusa und unsere liebe Utz Mariela wohnten, schauten bunt gestrichene Häuser hervor. In der Reihe der Häuser von Jirku bis Dumek war auch alles sehr trist. Eine Aufschrift "Hostinec" las ich, aber Menschen, die aus- und eingingen, sah man nicht. Wo früher Ulrich war, ist ein kleiner Laden, wo Ansichtskarten u.ä. verkauft werden.


Untere Häuserreihe am Gießhübler Ringplatz 1989

Am schönsten war das Haus von Schuppik, es war gepflegt und mit Blumenschmuck versehen. Die Bäckerei und der Lebensmittelladen von Kluger waren kaum zu erkennen; dort wo früher reges Leben herrschte, war alles tot. Kein Eingang war zu sehen und die Villa nebenan war wohl noch in Renovierung begriffen, es schauten teilweise die nackten Ziegeln heraus. Nicht anders war es mit der Häuserreihe beim ganz alten Rathaus. Die Drogerie ist nicht mehr da. Aber wo zuletzt die Milchstelle war, gab es Blumenkästen vor den Fenstern.

Als wir uns ein wenig umgeschaut hatten, kam schon Erich Klar, der Sohn von Mariechen Klar (Schmieds Peppa), und stellte sich in ordentlichem Deutsch vor, denn er wollte uns mit dem Auto überallhin fahren, damit wir noch recht viel sehen konnten. Zuerst gingen wir in die Kirche, da Erich den Schlüssel hatte; denn einen eigenen Pfarrer gibt es nicht mehr. Das war ein inniges Erlebnis. Jeder Altar und jedes Bild schaute uns vertrauensvoll an. Der Hochaltar war leider eingerüstet, zwecks Renovierung, doch das Altarbild konnten wir im Nebenraum ansehen. Der Johannisaltar erschien mir noch wie früher, der Marienaltar erweckte warme Freude, war ich doch als Kind immer der Meinung, er sei der schönste der Welt.

 
Marienaltar mit "Prager Jesulein" in der Gießhübler Kirche

Wir haben einige Fotos gemacht, und wenn ich die heute anschaue, meine ich, es ist nicht so weit weg von meiner Vorstellung. Anschließend waren wir auf dem Friedhof, denn viele liebe Verwandte und Bekannte haben ihre Ruhestätte dort. Aber auch der Friedhof bot ein erschütterndes Bild. Zwischen gepflegten Gräbern wieder fast meterhohes Unkraut, alles durcheinander.

 Wir fuhren anschließend ins Kuttler Tal bis zum Gasthaus Hasler an die polnische Grenze. Als wir diesen Weg einschlugen, kamen wir aus dem Staunen nicht heraus. Der Weg war so eng, dass nur ein einziges Auto gerade noch fahren konnte. Beiderseits war alles eingewachsen und verwildert. Früher ist doch der Postbus ein- oder zweimal nach Bad Kudowa gefahren! Das ist kaum noch vorstellbar.


Das Kuttler Tal mit der Neuen Straße

Das Hasler-Gasthaus ist soweit noch in Ordnung, aber auch ohne Leben. Das Wolf-Haus ist dem Verfall preisgegeben und nicht zugehbar. Das Falke-Haus steht noch ganz gut da, das gleiche bei Herzig. Oberhalb dieses Hauses wird eine Ferienkolonie gebaut - wahrscheinlich für die Jugend.

Wieder im "Staadtla" angekommen, machten wir eine Fahrt zur Bürgerschule, die leider eingerüstet war. Dann ging's Richtung "Puschdärfla". Die Fabrik von Soumar, später Reichert, ist abgerissen. Im Großen und Ganzen stehen dort noch viele Häuschen, oft recht gut erhalten. Wir fuhren, bis es nicht mehr ging, fast bis zum Rasel-Heger.


Hegerhaus

Dann ging es Richtung Obergießhübel. Schon am Dynter-Hügel musste ich feststellen, dass sich auch dort vieles verändert hat. Unten auf den Wiesen ist alles zugewachsen. Den schönen Blick, den man besonders abends von dieser Stelle hatte, wo die beleuchteten Häuser wie "Bethlehem" aussahen, davon ist nichts mehr übrig. Je mehr wir nach oben kamen, desto schlimmer wurde die Verwaldung. Die Sommerseite ist noch besser dran als die Winterseite. Dort fehlen oft stattliche Häuser. Das Czerny-Gasthaus ist wohl noch vorhanden, aber es sieht auch traurig aus. Die Jesusstatue in der Wand fehlt, die Fliederbäumchen ebenso. Bei meinen Großeltern gegenüber steht noch die Winterschule, das übrige ist abgetragen. Die Schintag-Fabrik ist auch nicht mehr da. Auf der Wiese bis zur Bleiche standen zeltartige Bauten. Bei Herzig oben schien es bewohnt zu sein, ebenso das Schwedler-Haus.

In der Bleiche schien es fast wie früher zu sein. Dann weiter oben begann der Wald schon bei der Straße. Auch von unserem Elternhaus ist nichts mehr zu sehen gewesen, dort war urwaldähnlicher Wald. Das Haus an der Straße, wo früher Familie Wolf wohnte und nach deren Wegzug mein Vater es käuflich erworben hat, um dort eine Werkstatt einzurichten, steht noch und ist ganz gut erhalten. Auch wo unsere Nachbarn Rolletschek wohnten, ist ebenfalls nichts mehr da und ist verwaldet bis zum Haus von Rudolf Scholz. Das schaut gerade noch aus den Bäumen heraus. Die weiter folgenden Häuschen standen wohl noch, aber der Wald reichte bis zu ihnen und bot ein ganz anderes Bild als früher. Das Haus von meiner Tante und von meinem Onkel Rotzmann, das früher einmal abgebrannt ist, war sehr gut erhalten und auch die Stallungen und die Scheune zu Wohnungen ausgebaut. Es brannte sogar Licht in den Räumen und man wusste so, dass es bewohnt ist. Die Häuschen unterhalb, Meier und Stwrtetschka, sind noch da.

Als wir die Prelle hinauffuhren, waren wir auf die Schnappe gespannt; wie die wohl jetzt aussehen mag? Sie war äußerlich noch wie früher. Es brannte auch da Licht in den Räumen hinter der Veranda.


Die jetzige "Chata Cihalka" ist die frühere "Schnappe"

Aber Menschen, die ein- und ausgingen wie früher, fehlten. Das Schnappenhäuschen sah ganz gut aus, sogar wo früher der Forellenteich war, ist ein Swimmingpool. Gleich dahinter hatten wir ein großes Wiesengrundstück. Dort fanden wir ein Stück Heimat wieder – ja, es nahm sich wie eine Idylle aus. Die Wiese ist zwar auch zur Hälfte verwaldet, aber dort und auf den angrenzenden Wiesen weideten Kühe und Schafe und etwas weiter weg wendete ein Mann Heu mit einer Maschine. Es war Eckhard Kollert, der Sohn von Kollerts Milla. So etwas hatten wir in dieser Gegend nirgends gesehen. Das Häuschen war klein, aber nett. Auch seine Frau kam heraus und Erich erklärte ihr alles auf tschechisch. Ein großer Boxerhund bewachte das Haus. Sogar die Wasserquelle sprudelte noch und wir kosteten gleich davon. Diese Stückchen Erde vermittelte uns heimatliches Glück. Wir erinnerten uns, als wir noch als Kinder zur Heuernte dort oben waren und die vielen vornehmen Menschen zur Schnappe ziehen sahen. Die meisten kamen mit Droschken oder mit Autos, die jüngeren gingen oft singend zu Fuß. Ja, das war ein Erlebnis.

Nach kurzem Aufenthalt ging es weiter zum Schwarzen Kreuz. Auf dem Weg dorthin besuchten wir noch das Grab von Herrn Moschnitschka. Es waren frische Blumen darauf. Das Auto mussten wir bei Eckhard stehen lassen, denn die Straße war dafür nicht mehr geeignet. Wir suchten das Stonner-Haus, vergeblich, da war nur noch Wald. Das Schwarze Kreuz ist auch nicht mehr. Wir gingen bis zum Schlagbaum, um einen Blick nach Schlesien zu tun. Da aber der Wachtposten zum Telefon ging, haben wir schnell den Rückweg eingeschlagen.

Langsam fuhren wir die Straße zurück, um noch da und dorthin einen Blick werfen zu können. Nun kam das Wiedersehen mit Mariechen Klar, die uns zum Mittagessen eingeladen hatte. Ihre Sprache ist noch die gleiche, sowie ihre Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft. Sie verkörpert ein Stück Heimat. Es gab nach so vielen Jahren viel zu erzählen.

Am Nachmittag holte uns unser Bus zu einer Abendmesse nach Sattel ab, die dort ein sehr junger Priester in Deutsch abhielt. Es war ein schönes, unvergessliches Erlebnis! Am folgenden Tag fuhren wir nach Deschnei, zur Schierlichbaude und zur Schierlichmühle. Ich muss sagen, dort herrschte reges Leben. An den Ausflugszielen trafen wir viele Deutsche aus der DDR. Ich fand, dass diese Gebiete viel besser gehalten werden, als unser Heimatort Gießhübel. Ich nehme an, dass durch die Nähe der polnischen Grenze unser Ort an Zugkraft verloren hat. Wenn ich an früher denke, an die Turnfeste und ähnliche Veranstaltungen, da wurde mir so recht bewusst, was sich verändert hat. Durch die Nähe der berühmten Heilbäder Bad Reinerz und Bad Kudowa bekamen wir doch Einblick zur großen Welt. Davon ist nichts mehr übrig. Überhaupt, wenn man bedenkt, dass dem Land nach unserer Vertreibung laut Lexikon aus dem Jahre 1954 ein Vermögen von 19 Milliarden Dollar (nicht Mark!) zugeflossen ist, von sonstigen privaten Wertsachen abgesehen, es heute eher rückschrittlich als modern ist, im Vergleich zu uns Deutschen, die wir bei Null anfangen mussten!

Ein großes Gewitter nahm uns die Zeit, auch noch Untergießhübel zu sehen. Deshalb kann ich darüber leider nichts berichten. 


Aus:"Mei Heemt" 1990 /Nr.1, Seite 40 f und Nr.2 , Seite 77 f / geringfügig gekürzt von T.F.