Der Goldene Stollen

Am Nordabhange der Hohen Mense befindet sich eine von Natur aus gebildete Höhle, die unter dem Namen "Der Goldene Stollen" bekannt ist. In alten, unverbürgten Nachrichten hierüber wird von mehreren Höhlen gesprochen.

Das Gestein ist zum Teil Glimmerschiefer, der bei Beleuchtung wie Metall glitzert und flimmert, so dass eine lebhafte Einbildungskraft leicht Gold zu sehen vermeint.

An diese Höhle knüpft sich folgende Sage:

In dem Dorfe Jauernig am Fuße der Hohen Mense verlor ein Knabe frühzeitig seine Eltern. Der reiche Müller des Ortes nahm sich des verwaisten Knaben an und unterrichtete ihn im eigenen Handwerke. Der Müller besaß eine Tochter, die sehr schön und gut war. Anfangs verkehrten Jakob und Nanne – so hießen die beiden – wie Geschwister. Als sie älter wurden, gewannen sie sich immer lieber. Jakob trat eines Tages vor den Müller und bat um die Hand Hannas. Der Müller wollte jedoch davon nichts wissen und gebot ihm, sofort die Mühle zu verlassen. Er hatte seine Tochter bereits dem Sohne des benachbarten Berufsgenossen versprochen. Hanne bat ihren Vater flehentlich, ihr Jakob zum Manne zu geben, den Müllersohn könne sie nicht leiden und sie wolle eher sterben, als ihm anzugehören.

Dies bewog den Vater, der seine Tochter doch mehr liebte als sein Geld, zu folgendem Troste: "Ich werde Dich zu keiner Verbindung zwingen, aber ich gebe auch die Heirat mit Jakob nicht sofort zu. Prüfet Eure Liebe durch längere Trennung! Jakob, geh in die Fremde! Und hast Du nach Ablauf von drei Jahren so viel erspart, als die Hälfte meiner Mühle wert ist, dann kehre heim und Hanne und Mühle gehören Dir. Kehrst Du aber in der bestimmten Frist nicht zurück, dann bin ich meines Versprechens ledig.."

Drei Jahre sind fast verflossen. Jakob sitzt eines Abends in einer Schenke vor Wien ganz traurig und niedergeschlagen. Da tritt einer von drei Männern, die sich ebenfalls in der Stube befinden und fortwährend in welscher Sprache redet, auf Jakob zu und fragt nach der Ursache seines Kummers – und ob es vielleicht gar Nanne sei.

Erschrocken starrt er den Frager an. Allein sein Erstaunen wird noch größer, als er hört, dass jene drei unheimlichen Männer auch von Hindernissen Kenntnis haben, die der Müller seiner Ehe mit Nanne in den Weg gelegt hat.

Rasch ist jedoch Jakobs Vertrauen durch die Zusage wiedergewonnen, dass die Fremden ihm helfen würden, wenn er offenherzig und aufrichtig seine Lebensgeschichte erzähle und ihnen alsdann einen Gefallen erweise. Als Jakob von Hilfe hört, ist er zu allem bereit. Er redet von seiner Jugend, seiner Liebe zu Hanne und seiner Wanderschaft: Auf letzterer hatte er nach zweijähriger Arbeit schon ein hübsches Sümmchen erspart und hoffte mit Zuversicht, vor Ende des dritten Jahres noch soviel zu ersparen, um vor den Müller hintreten zu können. Allein während der Mittagsruhe, die er nach einem anstrengenden Marsche hielt, stahl ihm ein Schurke alles. Seitdem hatte er alle Lust zur Arbeit verloren.

Teilnahmsvoll hörten die Fremden zu und versprachen ihm reichlich Belohnung, wenn er ihnen bei der Hebung des Schatzes aus dem Goldenen Stollen behilflich wäre. Jakob versprach es mit Freuden; er hatte ja dadurch Gewissheit, bald seine Heimat und Nanne wiederzusehen!

Fröstelnd erwacht Jakob am nächsten Morgen. Er reibt sich die Augen, springt auf.

O Wunder! Über ihm wölbt sich der klarblaue Himmel und rings um ihn, - das – das ist ja seine liebe, liebe Heimat – dort die vertrauten Hügel, drunten die heimlichen Täler! – Er steht auf dem Gipfel der Hohen Mense! Und da kommen auch seine Bekannten von gestern. Ihr Zaubermantel hat Jakob in die Heimat getragen.

Seinem Versprechen gemäß zeigt Jakob den Eingang zum Goldenen Stollen und bittet um seinen Lohn. Doch Jakob soll mit in die Tiefe steigen. Dort erst werde er seinen Anteil erhalten. Ein Baum wird gefällt, die gestutzten Äste müssen als Sprossen dienen – und nun steigen die Männer schweigend in die Tiefe.

Am Grunde des Stollens angelangt, murmelt der eine der drei fremden Männer bei mattem Scheine einer schwarzen Kerze aus einem schwarzen Buche eine Verschwörungsformel. Alsbald spalten sich die Felsen und eine verschlossene Tür wird sichtbar. Sie öffnet sich. Eine zweite Pforte schließt einen langen Gang ab. Doch auch diese tut sich nach geheimnisvollen Worten des Zauberers auf. Vor einer dritten Tür liegt ein großer, schwarzer, zottiger Hund mit glühenden Augen. Auch ihn nötigt die Macht des Zauberers, den Eintritt freizugeben.

Die Schatzkammer öffnet sich, und vor Jakobs staunenden Augen blinkt und blitzt es. Der ganze Raum hängt voller goldener Zapfen. Dort aber, in der nächsten Ecke, schläft ein Greis auf einem Häuflein abgeschlagener Zapfen. Auch er hat den Schatz heben wollen und ist auch in die Schatzkammer gelangt. Ein unbedachter Ausruf beim Anblicke des vielen Goldes aber hat den Zauber gebrochen. Er schläft hier für ewige Zeiten. In aller Eile füllen die vier Männer die mitgebrachten Säcke und eilen nun wieder ans Tageslicht. Jakob aber erhält reichen Lohn.

Nachdem er die Fremden auf den Gipfel der Mense zurückgeführt hatte, sagten sie ihm Dank und flogen auf ihrem Zaubermantel gegen Süden; er aber eilte so rasch wie möglich seinem lieben Jauernig zu.

Erwartungsvoll schleicht er zur Mühle. Bald hat ihn Nanne erblickt und beide liegen sich vor Freude in den Armen. Der Vater, durch Gram frühzeitig ein Greis geworden, weint Freudentränen. Der Anblick des Goldes, das Jakob auf den Tisch legt, hat keinen Wert mehr für ihn; nur den Jüngling sieht er an und spricht: "Wärst Du nur früher heimgekommen! Auch ohne diese Schätze hättest Du mein Kind zur Frau bekommen. Nun aber empfanget meinen Segen. In Eurem Glücke will auch ich wieder glücklich werden!"