Erinnerungen an 1938
Margarete Kirschner, geb. Rolletschek (Gießhübel)


Panzersperre bei Gießhübel

Ich war damals 8 Jahre alt. Noch heute erinnere ich mich an das schicksalsschwere Jahr 1938. Es war gekennzeichnet durch schwere Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen. Letztere bauten Tag und Nacht an ihren Bunkern. Wir konnten die Geräusche hören. Über unsere Felder stellten sie Reiter aus Beton auf und spannten Drahtverhaue dazwischen. Die Leute kamen nicht auf ihre Felder. Heute wundere ich mich, wie meine Eltern damals das Heu eingefahren haben und wie sie das Getreide ernteten! Wahrscheinlich mussten sie Umwege machen.

Ich erinnere mich auch an ein sehr schweres Gewitter im Mai 38. Oben auf dem Berg hatten tschechische Soldaten ein Zelt aufgestellt, von wo aus sie die Grenze nach Schlesien beobachteten. Wir konnten sie vom Haus aus sehen. Es goss in Strömen, und es blitzte und donnerte fürchterlich. Mutter holte eine Gewitterkerze und Weihwasser herbei. Sie besprengte alles mit dem geweihten Wasser und zündete die Kerze an. Endlich ließ das Unwetter nach. Wir dachten auch an die Soldaten, die im Zelt ausharren mussten.

Eines Tages, die Tschechen hatten mobil gemacht, erhielten junge Gießhübler Männer die Einberufung zum Militärdienst. Onkel Adolf kam darauf zu uns und bat Mutter um Hilfe. Er wollte über die nahe Grenze nach Deutschland flüchten, weil er nicht einrücken wollte. Mutter gab ihm eine Sense. Er sollte mit ihr über die Wiese hinter dem Haus gehen. Beim Bach sollte er die Sense hinwerfen und durch das Wasser waten. Hinter dem Bach begann das Deutsche Reich. So nahe war die Grenze von uns aus.

Die Bevölkerung hatte damals große Angst. Man befürchtete sogar einen Krieg. Manche vermuteten, dass auch Russen oder Franzosen eingreifen könnten. Die Situation spitzte sich immer mehr zu, so dass die Menschen in Panik gerieten und zu flüchten begannen. Viele Frauen flüchteten mit ihren Kindern über die nahe Grenze nach Deutschland. Wir hatten zwei Tanten in Bad Reinerz wohnen. Dorthin wurden wir Kinder mit der Großmutter gebracht.

Es kamen dann auch noch andere Verwandte dort unter. Vater arbeitete seit längerem in Neurode/Schlesien und kam auch nicht mehr heim nach Gießhübel. Mutter und Tante Minna mussten zu Hause bleiben, um das Vieh versorgen zu können. Abends trafen sich die Zurückgebliebenen. Es wurden Nachrichten verbreitet und es wurde über die Angehörigen gesprochen, die man vermisste und von denen viele nicht wussten, wo sie waren.

Eines Tages kam Mutter mit einem schweren Koffer zu uns Geflüchteten nach Bad Reinerz zu Besuch und erzählte, dass die tschechische Bevölkerung Gießhübels Hals über Kopf ins Innere der Tschechei umsiedeln würde. Nur wenige Familien seien zurückgeblieben. In ihrem Koffer war ein großer Klumpen Butter untergebracht. Es gab in Gießhübel keine Abnehmer für Butter und Milch.

Die Erwachsenen verfolgten aufmerksam die Nachrichten. Sie sprachen vom Münchener Abkommen und dass wir bald heim ins Reich kämen. Da entschlossen sich Vater und Onkel Adolf an einem Sonnabend gegen Abend den Weg nach Gießhübel zu wagen. Sie nahmen mich mit. Als wir fast an der Grenze waren, blieben die Männer des öfteren stehen und lauschten. Die Stille war unheimlich. Auch die Dunkelheit machte mir Angst. Die Grenze am "Schwarzen Kreuz" war unbewacht. Nur ein Seil hatte man über die Straße gespannt.

Auf dem Heimweg trafen wir keinen Menschen. Die tschechischen Grenzer und Soldaten hatten sich auch zurückgezogen. Mutter freute sich sehr, als wir anklopften und sie uns in die Arme schließen konnte. Tage später kamen die deutschen Truppen nach Gießhübel. Die Geflüchteten kehrten wieder heim. Es gab so viel zu erzählen, was alle erlebt hatten. Das sollte noch lange so anhalten.