Lebenserinnerungen

von Johanna Urban, geb. Schmoranz


Johanna Urban (1913 - 2002)

Im Jahre 1913 wurde ich in Gießhübel im Adlergebirge geboren. Ich war das 8. Kind meiner Eltern, die in Obergießhübel ein kleines Haus besaßen. Der Vater war Handweber, die Mutter versorgte die Kinder und den Haushalt und half auch dem Vater beim Weben.

Wenn ich heute zurückdenke, kann ich erst richtig ermessen, wie schwer es meine Eltern hatten. Der Webstuhl in der Stube durfte nicht stillstehen, denn es gab damals keinerlei Unterstützung für kinderreiche Familien. Kinderreich aber waren die meisten. Es gab viele Familien mit acht, neun, zehn, ja sogar einige mit elf und zwölf Kindern. Soweit es ihnen möglich war, mussten die Kinder schon bald mithelfen. Die größeren versorgten die kleineren. Die jüngeren Geschwister trugen Schuhe und Kleidung der älteren ab. Den ganzen Sommer liefen sie barfuss. Ein neues Kleidungsstück gab es nur, wenn es unbedingt nötig war.


Alter Handwebstuhl aus Gießhübel

Jeder Weber hat darauf geachtet, dass nicht ein Faden beim Weben verloren ging, denn nur so gelang es ihm, einen kleinen Rest von der fertigen Ware, den "Stücken", abzuschneiden und für die eigene Familie zu behalten. Die Meterzahl jedes Stoffballens musste bei der Ablieferung genau stimmen. Unsere Mutter nähte uns aus den Resten Kleidchen und Schürzchen selbst und sparte so den Lohn für die Schneiderin.

Die Frauen halfen ihren Männern bei der Handweberei. Sie kauften zum Kochen und Backen aus Sparsamkeitsgründen meist das billige, geringe Mehl, aber für das Stärken der Wolle musste das gute, weiße Mehl genommen werden. Ich sehe in meiner Erinnerung heute noch die Mutter vor mir, wie sie "pudert" und stärkt, wie der Vater schärt. Wenn mein Vater diese Arbeit verrichtete, freute ich mich als Kind besonders. Ich durfte mich in die Schärmaschine setzen und "mittanzen" wie in einem Karussell. Mutter konnte auch "webern".
Wir Kinder lagen als Säuglinge in einer großen Wiege. Zum Schaukeln hatte die Mutter weder Zeit noch eine freie Hand. So verband sie die Wiege und ihr Bein mit einer Schnur, und beim Weben brachte sie mit dieser Hilfe gleichzeitig Wiege und Webstuhl in Bewegung.

Meinen älteren Bruder brauchte der Vater auch manchmal bei seiner Arbeit. Wenn keine "Pfeifen" mehr für das Weben da waren, musste mein Bruder spulen. Eigentlich hätte er in die Schule gehen müssen, er lernte auch gut, aber an solchen Tagen wickelte er sich, um glaubwürdig zu erscheinen, einen Verband um den Fuß und ließ sich durch seine Schulkameraden entschuldigen.

Mein Vater webte von früh bis Mitternacht, um für die Familie das Existenzminimum zu erreichen. Die Geschwister mussten gleich nach der Schulzeit mit Geld verdienen, damit sie den Eltern Kostgeld geben konnten. Mein älterer Bruder ging Kühe hüten und später in die Bäckerlehre nach Glatz zu einem sehr strengen Meister. Beide Schwestern arbeiteten nach der Schulzeit in der Fabrik. In Gießhübel gab es ja einige Webereien. Nebenbei wurden Filetarbeiten bis spät in die Nacht hergestellt. Diese Heimarbeit war besonders für Frauen mit kleinen Kindern ein günstiger und lebensnotwendiger Nebenerwerb. Ich verdiente mein erstes Geld zunächst in der Fabrik und später als Kindermädchen in der Familie des Fachlehrers Knoblich.


 Mädchen bei der Filetarbeit

Soviel die Menschen auch in der damaligen Zeit gearbeitet haben, der Sonntag wurde geheiligt. Die Arbeit ruhte. Die Gottesdienste wurden besucht. Nachher versammelten sich die Gottesdienstbesucher auf dem Ringplatz im "Staadtla". Dort stand der Polizist und trommelte. Dann rief er die neuesten Vermeldungen aus.

Gemeindegendarm Schmidt macht kund

Es gab damals noch kein Radio, kein Kino und kein Fernsehen. Die Leute trafen sich am Sonntag abends beim Nachbarn. Vorher vergaßen die Eltern nicht, die Streichhölzer vor uns Kindern in Sicherheit zu bringen. Bei der geringsten Unvorsichtigkeit wären die Holzhäuser schnell in Gefahr geraten. Mein Vater besuchte einen Nachbarn, bei dem sich einige Männer zum "Duraken" (Kartenspiel) trafen. Die Mutter ging in ein anderes Nachbarhaus, in dem einige Frauen zusammenkamen und Neuigkeiten von Ereignissen der Woche austauschten. Auf guten Zusammenhalt wurde Wert gelegt. Ohne Nachbarschaftshilfe wären manche Alltagsprobleme nicht zu meistern gewesen.

Im ersten Weltkrieg wurde mein Vater als Soldat eingezogen. Ich war damals noch sehr klein, aber vom Erzählen weiß ich, dass meine Mutter sehr tapfer war. Drei meiner Geschwister sind leider früh gestorben, ein Kind gleich nach der Geburt, eins mit zwei, das dritte mit fünf Jahren. Wenigstens fünf Kinder blieben meinen Eltern erhalten. Für sie hatte die Mutter im Krieg allein zu sorgen. Ich besitze aus der Zeit des 1. Weltkrieges noch eine Photographie, ein altes Familienbild. Ich, das jüngste Kind, sitze auf Mutters Schoß, Strohpotschen (Hausschuhe aus Stroh) an den Füßen, die meine ältere Schwester Mariela geflochten hatte. Alle Kinder sehen geschwächt aus, und die Mutter hat einen sehr traurigen Gesichtsausdruck. Vater fehlte. Gott sei Dank kam er nach dem Krieg gesund zurück, und es folgte eine etwas bessere Zeit.

Genügsam waren die Adlergebirgler. Viele Gerichte wurden aus Kartoffeln gekocht: Pietschplatzka, Zulkerkließlan, Orme Ritter, Arpelplatzka mit Kraut, Wossersoppe on Adäppel, Adäppel mit Putter on Quork, gestompte Arpel, Pietsch mit Äppeln, mit Bloobeern oder Kerscha. Krautdolka wurden zubereitet, Äppel- on Pflaumakließlan, gebrotter Reis, am Sonntag Mohbuchtlan. Für die Nudelsuppe am Sonntag kaufte meine Mutter ein halbes Pfund Rindfleisch, mit dem sie die Nudelsuppe für die ganze große Familie kochte. Fleischgerichte gab es selten.

Wir Kinder besaßen nicht viele Spielsachen. Wir waren auch nicht anspruchsvoll. Wir vergnügten uns einfallsreich auf unsere Weise. Zum Beispiel spielten wir mit einer zerbrochenen Muttergottesfigur. Sie war unsere Puppe, die man mit einem Stückchen Stoff ein- und auswickeln konnte. Wir kannten nichts anderes und waren zufrieden. Sehr gern haben wir auch mit dem Ball gespielt. Das Geld reichte nicht für eine Schultasche. So packten wir unsere Schulsachen in ein Tuch und klemmten es unter den Arm.


Alte Volksschule im Gießhübler "Staadtla" (Foto 1964)

Als ich mit Dynter Schusters Mariela einmal aus der Schule ging, und wir aus lauter Übermut mit geschlossenen Augen den Weg suchten, fielen wir über einen Steinhaufen am Straßenrand, den die Steinklopfer aufgehäuft hatten. Meine Schulsachen fielen aus dem Tuch, meine schöne Zeichnung war beschädigt. Da ist uns beiden der Spaß an dem Spiel vergangen. Wir Kinder hatten damals nicht viel Ablenkung. Darum nahmen wir alle Eindrücke viel konzentrierter und intensiver in uns auf. So weiß ich noch heute nach so vielen Jahren ein Gedicht auswendig, das uns Herr Lehrer Finger in der 1. Klasse gelehrt hat:

Erst war ich klein,
jetzt bin ich groß,
lern´ rechnen, lesen, schreiben,
sitz´ nicht mehr auf der Mutter Schoß,
mag nicht zu Hause bleiben.
Und wenn zur Schul´ das Glöckchen schlägt,
dann greif ich nach dem Buche,
und alles ist zurechtgelegt,
dass ich nicht lange suche.
Drum hat mich auch,
ich wette drauf,
mein Lehrer auch so gerne.

Wie oft lasse ich in Gedanken den Jahresablauf in der Heimat mit seinem Brauchtum vor mir entstehen!

Am Neujahrsmorgen strömten die Menschen in die Frühmesse oder das Hochamt. Sie wollten das neue Jahr mit dem Segen Gottes beginnen. Jeder war gespannt, wer ihm zuerst auf dem Kirchweg begegnen würde. War es ein Kind, bedeutete es Glück. War es eine kinderlose Frau, hatte man Missgeschick und Unglück zu befürchten. In der Anschauung der Menschen vermischten sich christliche und abergläubische Elemente. Kam der 6. Jänner, der Dreikönigstag heran, schrieb unser Vater drei Buchstaben an die Stalltür: K+M+B.
Kaspar, Melchior und Balthasar sollten das Vieh vor Krankheit bewahren. Am Dreikönigstag wurde in der Kirche das Wasser geweiht. In keinem Haus fehlte der Sprengkessel mit Weihwasser neben der Stubentür. Wenn ein Familienmitglied eine Reise unternahm oder eines der Kinder aus dem Haus ging, zeichnete uns die Mutter mit geweihtem Wasser ein Segenskreuz auf die Stirn, damit wir vor Unheil bewahrt blieben. Am Tage Maria Lichtmess wurden auch damals schon Kerzen geweiht.

Das Adlergebirge ist ein schneereiches Gebirge. Wir hatten strenge Winter. Unser Vater baute uns kleine Schlitten, zu denen wir "Ritsche" sagten. Voller Freude sausten wir die verschneiten Hänge hinab. Die Schulwege waren für die kleineren Kinder kaum zu bewältigen. In den hohen Schneewehen am Dinter-Hügel kamen wir mit unseren kurzen Kinderbeinen nicht weiter. Ich erinnere mich noch daran, als mich einmal mein Vater abholte. Er trug mich auf dem Rücken und stapfte durch den tiefen Schnee. In Obergießhübel wurde für die Kinder des 1. und 2. Schuljahres beim Wondrejz Tinla ein Klassenraum für den Unterricht im Winter eingerichtet.


Ehemalige Winterschule in Obergießhübel 1993

Für kranke Menschen, die in einem Krankenhaus untergebracht werden mussten, war es im Winter besonders schwer. Das Krankenhaus in Nachod war in drei Stunden zu erreichen, wenn die Angehörigen zu Fuß auf Besuch gingen. Nach Reinerz brauchte man zwei Stunden. Es fuhr kein Autobus. Wenn man Glück hatte, kam ein Pferdefuhrwerk, das einen wenigstens ein Stück mitnahm. Meine Schwester Annla war 1922 gefallen und hatte sich eine schwere Verletzung zugezogen. Sie lag von Oktober bis Jänner im Krankenhaus in Nachod. Schwester Mariela oder die Mutter gingen sie jeden Sonntag besuchen, drei Stunden hin, drei zurück.

Als die Annla entlassen werden konnte, holte sie meine Mutter ab. Einen Pferdeschlitten hätten meine Eltern nicht bezahlen können. Also stapften Mutter und Annla durch den hohen Schnee, was man heute keinem Kind nach dreimonatigem Krankenhausaufenthalt zumuten würde. Mutter bahnte mit ihrem Muff den Weg für das Kind, so gut sie konnte, aber Annlas Kräfte waren bald erschöpft. Sie wollte nicht mehr weitergehen und setzte sich immer wieder in den Schnee. Meine Mutter wusste, dass das bei großer Kälte lebensgefährlich war, aber tragen konnte sie das große Kind nicht mehr. So bat sie verzweifelt immer und immer wieder: "Annla, noch a Stückla!" Wie viel Stoßgebete wird Mutter auf diesem Weg in ihrer Not zum Himmel geschickt haben! Und woran sie kaum selber geglaubt hatte, sie brachte die Annla bis nach Hause. Die Mutter kniete, als sie in die Stube kam, so angezogen, wie sie noch war, auf dem Fußboden nieder und dankte Gott für seine Hilfe.

In den Wintermonaten gingen die Menschen abends zum "Rocka" oder zum "Lichta". Als ich etwas größer war, durfte ich manchmal mitgehen. In meiner Kinderzeit gab es in den meisten Häusern nur eine Petroleumlampe, aber in der Czerny-Mühle und beim Schkop hatten sie schon elektrisches Licht. Das war ein großer Vorteil für die Arbeit an den langen Winterabenden. Da kamen manchmal bis 14 junge Mädeln zusammen. Sie nähten an ihrer Filetarbeit und sangen bis in die Nacht hinein. In der Czerny-Mühle gab es sogar schon ein Grammophon, was natürlich eine besondere Anziehungskraft besaß.


Die 1947 abgebrannte ehemalige Czernymühle

Auch bei uns kamen Leute zum "Rocka" zusammen. Im Spaß wurde unser Haus als "Jungfernheim" bezeichnet, das vom Albert als "Männerheim", und bei der Frau Bittner war das "Weiberheim". Die Fenster der Adlergebirgshäuseln waren klein und niedrig. Da konnte man gut in die erleuchteten Fenster schauen, und das nutzten gern die jungen Burschen aus. Sie sahen heimlich in die Stuben, ob darin vielleicht ihre Liebste zum "Rocka" ist.

Als meine älteren Schwestern schon junge Mädeln waren, hatten die Jungen Pech. Wahrscheinlich haben sie zu sehr ihre Nasen an der Fensterscheibe platt gedrückt. Jedenfalls brach sie entzwei. Eine neue Fensterscheibe aber war für einen armen Weber eine kostspielige Angelegenheit, und das wusste auch die Jugend, die nicht begütert, aber ehrlich war. Plötzlich flogen fünf Münzen, fünf Kronen, durch die Scherben in die Stube und einer der Burschen rief mit verstellter Stimme meinem Vater zu: "Schmoranz, seid ock nee biese! Wenn´s mehr kosta selde, bezohla mir´s!"

Gingen zu später Stunde die Mädeln vom "Rocka" heim, war für die jungen Männer der erwartete Augenblick gekommen. Jeder begleitete sein Mädel nach Hause. Im Winter wurden auch Federn geschlissen. Dazu kamen die jungen Mädchen wieder in verschiedenen Häusern zusammen. Oft brachten sie ihren Burschen mit. Es wurde erzählt, gelacht und gesungen, während die Mädchen mit dem Federnschleißen beschäftigt waren. Zwischendurch wurde eine Pause mit Kaffee und Krapfen eingelegt. So kamen die Mädeln günstig zu den Federbetten für ihre Aussteuer.

Im "Stenka Hause" neben dem Pohner Bäcker wurde für die Jugend eine Stube, ein "Heim", eingerichtet. Eine Lehrerin, das Fräulein Raabe, leitete es. Am Sonntag trafen sich im Heim Mädchen und Jungen. Wir bastelten, erzählten und sangen. Manchmal sind wir auch alle zusammen rodeln gegangen. Da ging es sehr lustig zu. Unter der Gießhübler Jugend gab es damals auch schon tüchtige Skifahrer, die sich bei vom Turnverein veranstalteten Wettkämpfen bewähren konnten.

Die Winterzeit war die Zeit der Bälle. In Gießhübel gab es verschiedene Tanzvergnügungen, zum Beispiel den Weberball, den Turnerball, den Feuerwehrball. Kostbare Ballkleider besaßen wir als junge Mädchen nicht. Sie waren oft aus Vaters selbstgewebtem Baumwollstoff hergestellt, aber das minderte unseren Frohsinn nicht. Bei allem im Leben kommt es nur auf die richtige Einstellung an. Wir tanzten Walzer, Polka, Dreher, Rheinländer; und wenn es ganz lustig zuging, die "Schlietabohne". Die Ballbesucher leisteten sich, wenn es eben ging, ein warmes Essen: Lawerwerschtlan mit Erdäpfeln und Sauerkraut oder – je nach der Größe des Geldbeutels – Schweinebraten mit Knödeln und sogar Schnitzel. Krapfen, Kaffee, Bier und Schnaps gaben das übrige dazu, um die gute Laune noch zu steigern.


Das ehemalige Czerny-Gasthaus
mit Tanzsaal und Bühne (Foto 1964)

Bevor die Fastenzeit begann, wurden auch gern Hochzeiten mit Brautschau gefeiert. Da gab es Bräuche, die genau beachtet werden mussten. Am Polterabend sollte die Braut von der einbrechenden Dunkelheit an nicht mehr aus dem Haus gehen als Zeichen dafür, dass sie dem Bräutigam nicht mehr davonlaufen wird. Die Gießhübler Musikanten zogen vor das Brauthaus und spielten:

Jungfer Braut, komm heraus!
Deine schöne Zeit ist aus!

In der Stube banden die Brautjungfern für die Braut den Myrtenkranz. Erwartete die Braut schon ein Kind, durfte der Kranz nicht geschlossen sein. Die Braut sollte Brot, Salz und Geld nicht vergessen, damit sie in ihrer Ehe nie Not leidet. War einer der Brautleute Mitglied des Turnvereins, gingen alle Turner und Turnerinnen zum Polterabend und sangen vor dem Haus "Mein Schätzlein kommt von ferne", "Horch, was kommt von draußen rein" oder "Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß". Gedichte wurden vorgetragen, aber gepoltert wurde nur im eigenen Haus mit einigen Tellern und Töpfen. Das Brautpaar musste die Scherben selbst wegräumen.

Die Hochzeit wurde meist bei der Familie der Braut gefeiert. Da gab es viele Vorbereitungen. Der Webstuhl wurde aus der Stube getragen, damit Platz für die Gäste geschaffen werden konnte. Die Nachbarn halfen mit Stühlen und allem, was sonst noch für eine größere Gesellschaft gebraucht wurde, aus. Zu Nachbarn, Freunden und Bekannten, die nicht an der Hochzeitsfeier teilnahmen, wurde "Hukstkucha" (Hochzeitskuchen) getragen. Am Hochzeitstag war meist um 10 Uhr die Trauung in der Kirche. Die Braut trug ein langes, weißes Kleid, Schleier und Myrtenkranz. Der Braut wurde gesagt:

"Loß a Reu-Bärtl,
a Viel-Andersch
on a Schmolhons derhäme!"

Dieser Spruch besagte, die Braut sollte den Schritt, den sie heute tat, nie bereuen. Ihr Leben wird von nun an anders verlaufen als bisher, und der Schmalhans deutete darauf hin, dass es oft recht ärmlich zugehen wird. Man sagte Reubärtel, Vielandersch und Schmolhons gehen bei den meisten Brautleuten mit. Wenn die Braut die Kirche betrat, sollte sie mit dem linken Fuß zuerst über die Schwelle gehen. Auf die richtige Erfüllung der Bräuche wurde auch von den Zaungästen genau geachtet.

In die Brautmesse gingen viele Frauen, sie ließen sich selten eine Hochzeit entgehen. Zu Hause erzählten sie dann, was das Brautpaar richtig oder falsch gemacht hatte. Vor dem Altar legten die Blumenmädchen dem knienden Brautpaar die Traukränzchen auf das Haar. Dabei mussten Braut und Bräutigam stillhalten, denn die Kränzchen sollten nicht herunterfallen. Alle Hochzeitsgäste gingen um den Hochaltar "zu Opfer" und gaben eine kleine Spende. Der Bräutigam musste der Braut hinter dem Altar das Opfergeld geben – als Zeichen seiner Bereitschaft, von nun an für sie zu sorgen. Standesamtliche Trauungen gab es damals noch nicht. Nach Trauung und Brautmesse ging der ganze Hochzeitszug oft zu Fuß nach Hause. Konnte es sich aber der Bräutigam leisten, fuhr die Hochzeitsgesellschaft in Pferdekutschen.

Wir Kinder spannten, wenn das Brautpaar kam, eine Schnur über den Weg. Der Bräutigam musste das Lösegeld zahlen. Auf dem Rückweg kehrte die Hochzeitsgesellschaft zu einem Umtrunk in einem Gasthaus ein, im Hotel Jirku, in der Krone oder beim Märsenger. Um ein Uhr wurde sie im Brauthaus zum Mittagessen erwartet. Es fand sich immer eine Frau in der Nachbarschaft, die das Amt des Kochens übernahm. Zu meiner Zeit wurde den ganzen Tag froh gefeiert.


Die ehemaligen Gasthäuser Märsenger,
Krone, Jirku (Foto 1964)

Der "Druschmar" (Brautführer) war der Mann, der für gute Stimmung sorgen musste und die Gäste unterhielt. Zu dieser Aufgabe gehörte schon eine Begabung. Aus Mutters Erzählungen weiß ich aber, dass sich zu ihrer Zeit, also vielleicht heute vor hundert Jahren, viele Brautpaare nur trauen ließen und den weiteren Tag nur im engsten Kreis der Familie verlebten. Manche Paare haben damals sogar gleich, wenn sie aus der Kirche kamen, die Kleidung gewechselt und gearbeitet wie an jedem anderen Tag. Sie konnten sich Verdienstausfall und Feierkosten bei dem Existenzminimum, das viele Gebirgler nur hatten, einfach nicht erlauben.

In meiner Kinder- und Jugendzeit wurde im "Huksthause" (Hochzeitshaus) bis 6 Uhr abends gefeiert. Dann ging es mit Musik ins Gasthaus. Zur "Brautschau" kamen viele Menschen, der Saal füllte sich schnell. Das Brautpaar tanzte den ersten Tanz, dann nahm der Brautführer dem Bräutigam die Braut ab, führte sie zum Gastwirt, dem nun der nächste Tanz gehörte, während der Bräutigam mit der Gastwirtin tanzte. Danach tanzte die Braut mit allen verheirateten Männern im Saal, der Bräutigam mit deren Frauen. Anschließend wiederholte sich diese Tanzordnung mit den ledigen jungen Leuten. Der Mann, der gerade mit der Braut tanzte, bestellte bei der Kapelle ein Musikstück. Er bezahlte dafür fünf Kronen. So ging es die ganze Nacht hindurch. Ausruhen konnte sich das Brautpaar nur, wenn ein Gedicht vorgetragen wurde.


Der Gießhübler Musikverein

Meine Schwester Mariela heiratete im November. Die Vorhänge waren vor den Saalfenstern zugezogen, außerdem wird es um diese Jahreszeit spät hell. So merkte es die Hochzeitsgesellschaft nicht, dass sie noch um 9 Uhr am Sonntag tanzte. Das war schon eine sportliche Leistung! Kossek Hermine, Frau Heinke, hat im Feber geheiratet. Die Hochzeitsgesellschaft ist mit sieben Schlitten zur Kirche gefahren. Die Brautschau dauerte bis früh um 8 Uhr. Draußen waren 30 Grad Kälte, und niemand fand es verlockend, heimzugehen.

Am Faschingstag gingen Martinka Adolf mit einer Trommel und Stonjek Ignaz mit der Ziehharmonika in lustiger Verkleidung von Haus zu Haus. Wir Schulkinder rannten hinterher und konnten von den Darbietungen nicht genug bekommen. Sonntag, Montag und Dienstag vor dem Aschermittwoch war Tanz, damit es sich jeder noch einmal nach Herzenslust "antun" konnte. Als junge Mädchen gingen wir natürlich auch zur "Musik". Am Faschingsdienstag ermahnte uns die Mutter jedes Mal, auf keinen Fall länger als bis Mitternacht zu tanzen, weil dann die Fastenzeit beginnt und die Menschen damals noch die Gebote sehr ernst nahmen.

Unsere Mutter hatte als junges Mädel einmal vergessen, auf die Zeit zu achten. Es tat ihr nachher so leid, dass sie sich vornahm, in ihrem ganzen Leben nie mehr am Faschingsdienstag tanzen zu gehen. Sie hat ihr Versprechen gehalten, und der Vater schloss sich ihrem Wunsch an. So habe ich mich an Mutters Ermahnung genau gehalten und immer wieder einmal auf die Uhr geschaut. Fünf Minuten vor 12 ging es heim, und wenn es noch so schön war! Wer nach Mitternacht das erste Stück tanzte, bekam die so genannte "Babe", den "Aschkuchen".

Das Volk lebte damals aus dem Glauben, das ganze Jahr war danach ausgerichtet. So holt man sich am Aschermittwoch oder dem darauf folgenden Sonntag das Aschenkreuz. Nun gab es in den sieben Wochen der Fastenzeit kein Tanzvergnügen und keine Hochzeit. Jeden Sonntag um 2 Uhr wurde die Kreuzwegandacht besucht und die Fastenpredigt gehört. Die Gläubigen sangen das alte Lied "Zum Kreuzweg eilet hin, die ihr den Heiland liebet". Diese ernste Zeit wurde durch den Josefstag am 19. März etwas unterbrochen. Da zogen die Musikanten zu allen Häusern, in denen ein Josef, ein Seffla oder Peppla wohnte, und brachten ihm zum Namenstag ein Ständchen. Der Name Josef war in unserer Heimat sehr verbreitet.

Die Wochen der Fastenzeit vergingen schnell, der Frühling zog ganz allmählich in unserem Gebirge ein. Die Weiden trugen silberne Kätzchen. Diese Weidenzweige, "Palmen" genannt, wurden am Palmsonntag in der Kirche in einem feierlichen Gottesdienst geweiht. Zu Mittag gab es am Palmsonntag nach alter Tradition Biersuppe und Butternudeln. Die Tage der Karwoche hießen Blauer Montag – Gelber Dienstag – Krummer Mittwoch – Gründonnerstag – Karfreitag – Karsamstag.

Am Montag in der Karwoche war im Stadtla Jahrmarkt. Wer unbedingt ein neues Kleidungsstück brauchte, konnte sich in den vielen Buden etwas erstehen. Die Besitzer der "Zuckerbuden", die Süßigkeiten anboten, machten ein gutes Geschäft, wussten doch alle, dass die kleinen Mädeln "zum Grindonerschtiche" und die Jungen am Ostermontag schmeckostern kommen würden. Am Krummen Mittwoch war es Brauch, in das Haus, in dem man am häufigsten zum "Lichta" oder "Rocka" war, ein Strohwischel zu tragen. Das Mädchen schlich in der Dunkelheit ganz leise ins Haus, warf den Strohwisch in die Stube und rief:

"Ich brenge ´s Weschla.
Wenn ihr mich kriegt,
Bott mich wie an Feschla!"

Nun mussten die Mädchen aber laufen, denn diese Aufforderung ließen sich die Männer nicht zweimal sagen! Wenn es ein Hausbewohner erwischte, hatte er das Recht, das Mädel mit Wasser zu begießen. Das war natürlich ein Spaß! Als Kind freute ich mich besonders auf den Gründonnerstag. Mit einer Beuteltasche ging ich von Haus zu Haus. Wir Mädchen sagten ein Sprüchlein auf:

"Gelobt sei Jesus Christus!
Ich kumme zum Grindonerschtiche."

Da bekamen wir Kinder ein paar Kleinigkeiten geschenkt, meist etwas Süßes. Die Frau Urban, meine spätere Schwiegermutter, hatte immer etwas besonders Schönes für mich.

Der Karfreitag war ein strenger Fasttag. Das hieß früher, nur einmal am Tag etwas zu essen. Am Karfreitag wurde gründlich das Haus geputzt. Aber Zeit zum Besuch des Heiligen Grabes musste trotzdem bleiben. Es gab wohl selten jemanden, der am Karfreitag nicht in die Kirche gegangen ist. Ältere Leute, die nicht mehr gut gehen konnten, wurden von Bauern zur Kirche gefahren. Das Heilige Grab war als Grotte dargestellt, in der fast in Menchengröße eine Heilandsfigur hinter einem Gitter lag, umgeben von leuchtenden Glaskugeln als Lampen. Die Kirche war den ganzen Tag bis um 10 Uhr abends geöffnet. Um 6 Uhr abends wurde nach der Segensandacht der große Kreuzweg gebetet.


Seiteneingang zur Gießhübler Kirche
mit Kreuzwegstationen und dem Ölbergbild

Schon früh um 5 Uhr wurde am Karsamstag bei der Kirche ein Feuer entzündet und das Holz geweiht, aus dem jeder Feldbesitzer Kreuzchen herstellte, die er am Ostermontag zusammen mit den geweihten Palmen in jede Ecke der Felder steckte. Gott sollte die Saaten bis zur Ernte segnen. Mit dem Karsamstag ging die Fastenzeit zu Ende. Sieben Wochen lang war die Kirche düster, ohne Blumenschmuck, die Altäre mit violetten Tüchern verhangen. Am Karsamstag aber war sie festlich geschmückt. Um 6 Uhr abends begann die Auferstehungsfeier. "Seht, auferstanden ist der Herr!" wurde gesungen. Zur Prozession, die zum Friedhofstor hinaus und über den Ringplatz zog, rückten Feuerwehr und Musikkapelle aus. Der Priester trug die goldene Monstranz. Viele Messdiener begleiteten ihn. Die Glocken, die seit Gründonnerstag geschwiegen hatten, läuteten wieder.

Auch am Ostersonntag zog die Musikkapelle schon früh um 5 Uhr durch die Straße und schmetterte "Seht, auferstanden ist der Herr!" Am Ostermontag gingen die Jungen mit ihren aus Weidenruten geflochtenen Schmeckostern in die Häuser, in denen Mädchen wohnten. Ich bin als Kind oft auf den Webstuhl geklettert, um mich vor den Jungen in Sicherheit zu bringen. Sie gingen nicht sehr sanft mit ihren Weidenruten um. Auch die Jugend machte beim Schmeckostern mit: Die Burschen versuchten, ihre Liebste aus dem Bett zu treiben, doch das gelang ihnen nicht so leicht. Die Mädeln waren auf der Hut. Die jungen Männer versuchten zuerst, irgendwie in unser Haus zu gelangen. Wenn aber alle Türen verschlossen waren, baten sie den Vater: "Schmoranz, macht ock uff, mir wella die Meidlan eim Bette derwischa!"

Unser Vater war kein Spielverderber, und so gelang den Burschen manchmal schon der Streich, aber nicht immer! Wenn sie Annla und Mariela vor dem Haus bemerkt hatten, schlichen sie schnell in den Ziegenstall, der von innen zu verriegeln war. Nun konnten die Jungen im Haus suchen, wo sie wollten, sie fanden die Mädchen nicht. Dann mussten sie ohne Eier und ohne ein Gläschen Schnaps ihrer Wege ziehen, denn das gab es nur, wenn es ihnen wirklich gelang, die Mädeln mit ihrer Schmeckoster zu erwischen. Der Freund schenkte seinem Mädel ein großes Pfefferkuchenherz mit ihrem Namen. Meine Schwester Mariela hob das Pfefferkuchenherz, auf dem in Zuckerguss "Mariechen" stand, lange im Schranke auf.

Der Frühling hatte begonnen. Die Wiesen an den Bachläufen waren mit Schneeglöckchen übersät. Es war ein echtes Kinderglück für uns, so viel Schneeglöckchen (Frühlingsknotenblumen) wie unsere Hände nur halten konnten, pflücken zu können. Nun wurde es Zeit mit der Feldarbeit zu beginnen. Ein Stück Feld, eine Wiese, ein paar Hühner und Ziegen besaßen die meisten Häuslerfamilien. Wir hatten drei Ziegen, sieben Hühner, zwei Gänse und eine Katze. Unser Feld lag am Pansker, eine halbe Stunde vom Haus entfernt. Der Weg führte steil hinauf. Den Dünger mussten wir mit einer Butte auf dem Rücken zum Feld tragen. Das war schwere Arbeit. Später versuchte der Klar Bauer mit Pferd und Wagen den schmalen, steinigen Weg hinaufzukommen. Es gelang ihm und erleichterte sehr die Bestellung der Felder.


Obergießhübel (Foto 1964)

Am 25. April, am Markustag, zog eine Prozession über die Felder wie auch an den drei Bittagen vor Christi Himmelfahrt. Der Herr Pfarrer zog mit Ministranten und Gläubigen zu Kreuzen, die in unserer Heimat an so manchem Wegrand standen. Die Steinkreuze wurden von den Besitzern mit Kerzen und Blumen geschmückt. Bei den Bittprozessionen betete das Volk um Gottes Segen für die Felder. Am 1. Mai zogen die Musikanten von Haus zu Haus und spielten Stücke, die sich die Leute bestellten. Am Abend wurde in der Kirche die erste Maiandacht feierlich gehalten. Schulmädchen standen als "Jungferlen" in weißen Kleidern vor dem Marienaltar. Die Musikanten spielten auch hier. Viele Menschen kamen, denn die Muttergottes wurde in unserer Heimat sehr verehrt und in jeder Not um Fürbitte gebeten.


Marienaltar
in der Gießhübler Kirche

In den Monat Mai fiel schon zu unserer Zeit der Muttertag. In der Schule lernten wir das Lied "O hast du noch ein Mütterchen" und ein Gedicht, das mir noch nach 60 Jahren in Erinnerung geblieben ist:

Mutter ruft es immerfort
In dem ganzen Hause,
Mutter hier und Mutter dort,
immer ohne Pause.
Überall zugleich zu sein,
ist ihr nicht gegeben,
sonst wo hätte sie, ich mein´,
ein bequemes Leben.
Jeder ruft, und auf der Stell´
will sein Recht er kriegen,
und sie kann doch nicht so schnell
wie die Schwalben fliegen.
Ich fürwahr, bewundre sie,
dass sie noch kann lachen.
Was allein hat sie für Müh´,
alle satt zu machen!
Kann sich keinen Augenblick
auszuruhn erlauben,
und das hält sie noch für Glück!
Sollte man es glauben?

Viel konnten wir unserer Mutter nicht schenken. Dafür fehlte das Geld. Aber was auf Wiesen und Bächen entlang schon blühte, konnten wir unserer Mutter schenken, Himmelschlüssel, Wiesenschaumkraut, Sumpfdotterblumen. Wir sagten ein Gedicht auf, vielleicht hatten wir noch eine kleine Süßigkeit, mehr nicht, und Mutters Augen strahlten vor Freude. Am Abend des Muttertages wurde im Saal des Hotel Jirku von den beliebten Laienspielern vor allem den Müttern zu Ehren ein Theaterstück aufgeführt.

Die Mütter hatten es früher schwerer als heute, wenn sie ein Kind erwarteten. Es gab für sie keine Schonzeit-Wochen vor und nach der Geburt. Man kannte nur Hausgeburten und die Hilfe einer Hebamme. Bei komplizierten Fällen war im weiteren Umkreis kein Frauenfacharzt zu erreichen. Man rief den Gießhübler praktischen Arzt, Dr. Ellbogen, später Dr. Petsch. Dem Arzt stand kein Auto zur Verfügung. Er musste damals noch weite Wege zu Fuß zurücklegen.

Als meine Schwester Annla geboren werden sollte, war unsere Mutter mit dem zweijährigen Anton, meinem ältesten Bruder, ganz allein zu Hause. Es gab kein Telefon, mit dem sie hätte schnell Hilfe holen können. In ihrer Angst rief sie: " Heilige Mutter Anna, hilf!" Kurz darauf schaute die Nachbarin zur Tür herein und lief schnell um die Hebamme. Die Geburt verlief gut, obwohl damals die Kindersterblichkeit weit häufiger war als heute. Das neugeborene Kind erhielt zum Dank für das erhörte Gebet den Namen Anna.

Die Kinder wurden so schnell wie möglich getauft, die Mutter lag meist noch im Wochenbett. Man wollte vermeiden, dass ein Kind ungetauft stirbt. Den Kindern wurden die Namen von Heiligen gegeben, z.B. Maria, Anna, Josef, Anton, Philomena, Josephine, Johanna. So gab es in unserer Familie den Tonla, den Seffla, die Annla, Mariela und Hannla. Die Taufen wurden nicht besonders gefeiert. Konnte die Mutter später wieder aufstehen, ging sie nach altem Brauch den ersten Weg mit dem Kind in die Kirche zur Muttersegnung.

Am 16. Mai ist der Tag des Johannes Nepomuk, der früher ein Feiertag war, denn der Prager Heilige wurde im alten Böhmen sehr verehrt. Ich erinnere mich, wie ich als Kind mit der Mutter in der Dunkelheit zum Steinkreuz mit dem hl. Johannes Nepomuk in der Nähe des Czerny-Gasthauses gegangen bin. Viele Frauen kamen zu diesem Kreuz und beteten. Sie sangen zum Abschluss ihrer Andacht das Lied "Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget!"


Hl. Johannes
in Obergießhübel

Kam das Pfingstfest heran, unternahmen wir gern einen Ausflug in die herrliche Natur im Frühlingsgrün. Wir jungen Menschen wanderten auf die Hohe Mense oder bis zur Schierlichmühle. In der gesunden Luft unserer Waldberge gingen wir voller Frohsinn den Kammweg entlang und wurden so leicht nicht müde.

Einen besonderen Höhepunkt für das von seinem Glauben stark geprägte Volk bildete das Fronleichnamsfest. Die Menschen schmückten die Häuser mit Birkenzweigen und Birkenbäumchen zu beiden Seiten des Eingangs. Im Staadtla wurden auf dem Ringplatz viel Altäre aufgebaut und festlich geschmückt. Wir Kinder sammelten Blumen auf den Wiesen: Glatzer Rosen (Ranunkeln/Trollblumen), Vergissmeinnicht oder Margeriten, Herzelen (Tränendes Herz) für unsere Körbchen.

Am Fronleichnamstag gingen wir Schulkinder als "Jungferlen" (Jungfräulein) in der Prozession mit und streuten die Blüten aus unseren Körbchen auf den Weg, über den der Herr in der goldenen Monstranz getragen wurde. Vier junge Männer, die in der letzten Zeit geheiratet hatten, durften den Baldachin tragen, auch "Himmel" genannt, unter dem der Priester das Allerheiligste von Altar zu Altar trug, wo gebetet, gesungen und der Segen erteilt wurde. Andere Männer trugen Laternen mit brennenden Kerzen.
 


Fronleichnamsprozession
auf dem Gießhübler Ringplatz (um 1920)

Neben der Volksschule war die Feuerwehrspritze aufgestellt, auf der der Schornsteinfeger in Galauniform mit der Leiter während des ganzen Umzugs strammstand. Die Musikanten spielten, die Feuerwehr marschierte mit in der Sonne blitzenden Helmen. Alles, was Gießhübel zur Ehre Gottes aufbieten konnte, war eingesetzt. Mit feierlichem Glockengeläut zog die Prozession wieder in die Kirche ein. Die Gläubigen nahmen sich von den vier geschmückten Altären auf dem Ringplatz Birkenzweige mit heim. Sie wurden hinter das große Kreuz in der Stube und zu den Heiligenbildern gesteckt. Am Johannisfest, am 24. Juni, weihte der Priester Blumen und Kräuter, die unter dem Stubentisch ausgebreitet wurden. Man sagte: "A Poochtla (Lagerstatt) fier a Heiland macha".

Zur Sommersonnenwende rückte der Turnverein, dem viele junge Menschen angehörten, mit Fackeln aus und zündete auf einem Berg das große Sonnwendfeuer an. Es war ein unvergesslicher Eindruck, wenn die hohen Flammen in die Sommernacht emporschlugen. Der Turnverein spielte überhaupt im Leben der sudetendeutschen Jugend eine wichtige Rolle. Nach meiner Schulzeit ging ich einmal in der Woche abends in die Turnstunde, die Fachlehrer Knoblich leitete. Das Turnen hat uns jungen Menschen viel Freude bereitet. Im Sommer war das Turnfest, da trugen wir beim Festzug weiße Blusen und dunkle Röcke. Einmal war ich in Braunau beim Gauturnfest mit dabei. Ich erinnere mich sehr gern an alle Veranstaltungen des Turnvereins und die Gemeinschaft so vieler junger Menschen.


Der Gießhübler Turnverein

Im Sommer blühten auf den Wiesen unserer Heimat Margariten und Glockenblumen in Fülle. Die Zeit der Heuernte kam heran. Unsere Wiese lag am Ende der Bleiche, über eine Stunde Weg vom Haus entfernt. Wenn das Fuder Heu beim Hause ankam, musste das Heu auf dem Weg abgeladen, dann zur Giebelseite getragen und schließlich auf den Heuboden gegabelt werden. Ich habe oft "stopfen" geholfen, eine wenig beliebte Arbeit in der Sommerhitze, aber jedes kleinste Plätzchen musste für die Aufbewahrung des Ziegenfutters genutzt werden.

Wer keine Wiese besaß, holte sich vom Heger die Erlaubnis, im Wald für die Ziegen Futter zu holen. Gemäht konnte zwischen den jungen Bäumchen nicht werden. Das Gras wurde abgesichelt und nach Hause getragen. Es musste bezahlt werden. Mein Vater ging im Sommer zu den Bauern "haan" (hauen/mähen), weil er dabei etwas mehr Geld verdiente als beim Weben. Die Mutter sammelte mit den Nachbarinnen im Wald das Winterholz für unseren Kachelofen und trug es in einer "Hocke" auf dem Rücken heim. Die Menschen haben hart gearbeitet.

Zur Zeit der Erdbeerernte ging ich in aller Herrgottsfrühe auf den Pansker. Ich wusste, wo Walderdbeeren standen, eine besondere Delikatesse. Um die Steinrücken herum, wo auch Steinröschen blühten, fand ich besonders viele Erdbeeren, so dass ich oft ein großes Wasserglas mit den kleinen, herrlich schmeckenden Früchten füllen konnte.


Walderdbeere

Am 13. Juli, dem Margaretentag, hieß es: Die Blaubeeren sind reif! Ich bin als Kind "in die Blaubeeren " gegangen, wie das Blaubeerpflücken von uns Adlergebirglern bezeichnet wurde. Dazu mussten wir uns, obwohl wir in der warmen Jahreszeit barfuss liefen, feste Schuhe anziehen und unsere Beine mit "Liewesteckel" (Liebstöckel) einreiben, was die Schlangen abschrecken sollte. Es gab viele Kreuzottern. Immer wieder geschah es, dass jemand von einer Kreuzotter gebissen wurde. Frau Klar in Obergießhübel hatte nicht gleich nach dem Schlangenbiss ärztliche Hilfe und musste unter großen Schmerzen sterben.

Die Sommerferien dauerten vom 1. Juli bis 1. September, so konnten wir Schulkinder uns den ganzen Tag zum Beerenpflücken im Wald aufhalten. Ein Bauer wollte nicht, dass außer ihm auch andere in seinem Wald Beeren ernteten. In diesem Wald wuchsen aber besonders große Beeren, die uns natürlich anlockten. Wir Kinder mussten aufpassen, dass uns der Bauer nicht erwischte, denn wenn er uns sah, vertrieb er uns schimpfend mit einer Peitsche. Aber wir Kinder waren immer schneller als er. Ich glaube, ernsthaft zugeschlagen hätte er nicht. Die Peitsche hatte wohl mehr eine abschreckende Funktion.

Auch in dem großen Waldgebiet, das dem Heger unterstand, durfte man nicht, ohne im Besitz eines bezahlten Blaubeerscheines zu sein, Beeren pflücken. Meine Schwester Mariela erntete die Blaubeeren eimerweise und verkaufte sie in Gießhübel oder schaffte sie zum Verkauf bis nach Bad Kudova. Abgesehen davon, dass wir von diesen gesunden, erfrischenden Waldfrüchten schon beim Pflücken nach Herzenslust naschten, wurden sie dann zu Hause weiterverarbeitet. Die Blaubeeren wurden zu Gerichten verwendet oder an der Sonne getrocknet. Das Einwecken war in meiner Kinderzeit unter der einfachen Bevölkerung noch nicht bekannt. Die Blaubeeren wurden in ein großes Gurkenglas eingelegt, abwechselnd eine Schicht Beeren, eine Schicht Zucker eingefüllt, und oben drüber wurde Schnaps als Konservierungsmittel geschüttet. Das Glas banden die Frauen nur zu, und die Beeren haben auch bei dieser Zubereitung gehalten.


Die großen Waldgebiete in Gießhübel
unterhalb der Hohen Mense

Im August hielt Graf Colloredo Mansfeld, der in Opotcno wohnte, in seinen Wäldern zwei Wochen lang die Jagd ab. Während dieser Zeit war der Aufenthalt im Wald verboten. Der Heger musste kontrollieren, ob sich alle an die Bestimmung hielten. So mancher dachte an die reifen Beeren, die noch ungepflückt in den Wäldern standen und wagte sich trotz des Verbotes hinaus. Man musste sehr vorsichtig sein. Wurde man erwischt, konnte der Heger recht böse werden, weil sich die Waldbesucher während der Jagd ja auch in Gefahr begaben. Man hatte Glück, wenn er den Pflückern nicht die Beeren ausschüttete und man ohne Geldstrafe davonkam. In unseren Wäldern gab es auch viele Pilze, die wir mit großem Vergnügen sammelten. Die Freude des Suchens und Findens erfüllte uns. Die Pilze boten eine willkommene Abwechslung des sehr bescheidenen Speisezettels. Sie wurden auch für den Winter getrocknet.

Auf den Feldern ernteten die Bauern das Getreide, Korn und Hafer, das nach und nach mit Flegeln gedroschen wurde. Bis in den Herbst und Winter hinein hörte man aus dieser oder jener Scheune den gleichmäßigen Rhythmus der Flegeldrescher: eins – zwei , eins - zwei oder eins – zwei – drei, eins – zwei – drei und eins – zwei – drei – vier, eins – zwei – drei – vier – je nachdem, wie viel Drescher beteiligt waren. Das Schwingen der Flegel im Takt war schwere Arbeit, die gelernt sein wollte. Erst später haben allmählich Dreschmaschinen die Arbeit erleichtert. Wenn die Menschen, die früher gelebt haben, sehen würden, wie sich gar heute die Welt verändert! Mein Vater hängte den ausgedroschenen Hafer wegen der Mäuse in einem Sack an die Stubendecke. Als meine Schwestern das Tanzen lernten, ging es recht lustig zu. Auf einmal löste sich der Hafersack, fiel herunter, und die Holzdielen waren von Körnern übersät.

So sehr die Menschen zur Erntezeit heiße Sonnentage wünschten, so gefürchtet waren oft schwere Gewitter in unserem Gebirge. Die schweren Gewitterwolken fanden so leicht nicht aus den Bergen heraus, und es blitzte so grell, und der gewaltige Donner hallte wider. Ich hatte vor allem als Kind dann große Angst. Die Ängste waren auch berechtigt, denn es gab auf den Holzhäuschen keine Blitzableiter, nur auf einigen größeren Häusern wie etwa der Czerny-Mühle. Die Holzhäuschen waren bei einem Blitzschlag schnell ein Raub der Flammen geworden. Brach das Gewitter in der Nacht herein, standen die Menschen aus ihren Betten auf und zündeten die am Lichtmeßtag geweihte Kerze zu ihren Gebeten an.

Unsere Mutter erzählte uns öfter, dass vor vielen Jahren das Staadtla abgebrannt ist. Das Feuer soll in einer Scheuer ausgebrochen sein und sich durch den Wind rasch verbreitet haben. Eine sehr fromme Frau aus Pollom, die alle Tage nach Gießhübel kam, soll in der Nacht von diesem Brand geträumt haben. Als sie am Morgen ahnungslos über den Roten Hügel wieder nach Gießhübel zur hl. Messe gehen wollte, begegnete ihr ein Mann, durch den sie erfuhr, dass ihr Traum Wirklichkeit war. Die alten Leute erzählten, die Feuerwehr habe die Muttergottesstatue aus der brennenden Kirche in das Pfarrhaus getragen, um sie zu retten. Die Pfarrei ist nicht abgebrannt, was man dem Schutz der Muttergottes zuschrieb.


Brandstelle im Gießhübler Staadtla
Am Ring blieb nur das Pfarrhaus stehen

In allen Sorgen und Nöten baten die Menschen der vergangenen Zeit um die helfende Fürsprache Mariens bei Gott. So unternahmen sie jedes Jahr eine Wallfahrt nach Albendorf, dem großen, schlesischen Wallfahrtsort. Sieben Stunden gingen die Wallfahrer zu Fuß von Gießhübel nach Albendorf. Jeweils am Freitag zu Mittag trafen die Teilnehmer am Schwarzen Kreuz zusammen, abends um sieben Uhr erreichten sie ihr Ziel. Vorneweg trug ein Junge das Kreuz. Herr Stepan aus Untergießhübel war Vorbeter. Den ganzen Weg über wurde gebetet und gesungen. Unsere Mutter und meine älteste Schwester sind oft mitgegangen. Bei der Ankunft in Albendorf sangen die Wallfahrer: "Nun sind wir kommen an, o Königin". Dann wurde ein sehr einfaches Quartier bezogen. Es war ein großer Saal, in dem auf dem Fußboden ein Strohsack neben dem anderen lag.

Am nächsten Morgen war der erste Weg der Wallfahrer, die sich ortsweise möglichst zusammenhielten, natürlich der zur Kirche. Viele Stufen führten zur Wallfahrtsstätte hinauf, und auf jeder Stufe wurde kniend ein Vaterunser oder Ave Maria gebetet.


 Stiege mit Kapellen im Wallfahrtort Albendorf

In der Kirche konnten sich die Gläubigen in ihren Anliegen Trost, Kraft und Hilfe holen. Außer der Hauptkirche gab es noch eine Reihe von Kapellen bis in den nahen Wald hinein, bei denen die Prozessionen auch betend vorbeizogen. In Albendorf konnte man in den vielen Buden Andenken oder Mitbringsel für die daheim gebliebenen Angehörigen erstehen.

Am Sonntagvormittag nahmen die Gießhübler wieder Abschied mit dem Lied "Nun gehen wir fort von diesem Gnadenort. Maria von Albendorf, bitte bei Gott". Am Nachmittag erwarteten die Familien die Rückkehr der Wallfahrer. Viele gingen ihnen bis an die Grenze entgegen. Ich freute mich als Kind immer sehr darauf, Mutter und Schwester abholen zu dürfen. Ich ging an der "Schnappe" vorbei bis zum Schwarzen Kreuz, wo sich auch schon tschechische Finanzer (Grenzpolizei) eingefunden hatten, die Stichproben, ja sogar Leibesvisitationen vornahmen bei den aus Schlesien, also von reichsdeutschem Gebiet kommenden Wallfahrern durchführten. Verbotene Dinge wurden abgenommen.


Albendorf, Wallfahrtskirche

Ich freute mich immer besonders auf die Albendorfer Pfeffernüsse. Eine große Kaffeetasse, ein "Kaffeetippla" mit dem entsprechenden Namen wurde manchmal mitgebracht oder kleine Heiligenfiguren aus Porzellan. Im Glasschrank in der Stube wurde Stück für Stück wie eine Kostbarkeit aufbewahrt. Ich schaute mir als Kind immer wieder diese Figuren an. Da war ein "Ecce homo", eine Figur vom hl. Josef, vom Schutzengel, vom hl. Antonius, der hl. Anna. In der Nähe Gießhübels liegt ein kleiner tschechischer Ort, Rokoli, zu dessen Kapelle viele zur "Fohrt" (Kirchenfest unserer Kirchenpatronin Maria Magdalena) wallfahrteten. Unsere Mutter ging auch öfter allein zu dieser Kapelle, wenn sie ein besonderes Anliegen hatte. Die Wallfahrt nach Albendorf war ein kleiner Höhepunkt im bescheidenen Leben der Gebirgler.

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Wallfahrtskapelle von Rokoli

Es wurde aber auch an jedem weltlichen Ereignis interessiert Anteil genommen. So verbreitete sich schnell im Ort die Nachricht, wenn Scherenschleifer von Haus zu Haus zogen, um Messer und Scheren zu schleifen. Es gab auch andere Gäste in Gießhübel, das waren die Zigeuner. Auf dem Klötzerplan unterhalb der Allee stellten sie ihre Wagen ab. Die Zigeunerinnen mit schwarzem Haar, goldenen Ohrringen und langen bunten Röcken trugen ihre Kinder in einem Tuch auf dem Rücken, wenn sie in die Häuser kamen. Sie boten sich an, aus den Handlinien die Zukunft abzulesen, und manch einer konnte nicht widerstehen und ließ sich für ein kleines Entgelt wahrsagen.

Auf dem Klötzerplan stellte manchmal auch anderes fahrendes Volk ein "Ringelspiel" (Karussell), eine Reitschule, eine große Schaukel ab, was auf die Kinder besondere Anziehungskraft ausübte. Zog ein Leierkastenmann vom Grünen Tal durch Untergießhübel, über den Ringplatz, durch das Buschdörfel nach Obergießhübel bis zur Schnappe hinauf, liefen wir Kinder ein ganzes Stück seines Weges mit ihm, um noch und noch einmal seine lustigen Melodien hören zu können. Es gab ja noch keinen Rundfunk wie heute.

Zu den außergewöhnlichen Ereignissen zählten auch die Theaterabende. Gießhübel besaß eine sehr gute Laienspielgruppe, die mit Namen wie "Theater-Herzig", Wondrejz Rudolf, Rotter Fides, Hasler Berta, Frau Krejza, Felzmann Adolf, Martin Teschlers Herminla verbunden war, um einige besonders Begabte zu nennen. Wenn im Hotel Jirku ein Theaterstück aufgeführt wurde, war der Saal bis zum letzten Platz gefüllt.


Gießhübler Theaterspielgruppe

Bevor die Herbststürme mit Regenschauern über das Land brausten, erlebten wir noch sehr schöne, sonnige Herbsttage mit weiter Sicht über die Berge. Buntgefärbte Laubbäume leuchteten am Rande der dunklen Fichtenwälder auf. Wer einen Apfelbaum, einen Birnbaum oder einen Pflaumenbaum mit "Krichalan" (Mirabellen) und einen Baum mit blauen Pflaumen besaß, konnte jetzt ernten. Jede Frucht wurde geschätzt, da ging nichts verloren. Es gab Pflaumenknödel und Birnenbuchteln, Pietsch mit Apfelscheiben, um nur einige der beliebten Gerichte zu nennen.

Die Feldbesitzer nutzen das gute Herbstwetter, um Rüben und Kartoffeln zu ernten. Die "Adäppel" oder "Arpel" holten die Menschen damals noch mit der Hacke aus der Erde. Aus dem trockenen Kraut wurde auf dem Feld ein "Kartoffelfeuala" gemacht, in dem die Kinder die Erdäpfel brieten. Das galt als besondere Delikatesse. Meine Eltern fuhren die Kartoffeln auf einem Schlitten vom Feld auf dem Pansker heim. Schubkarren wären auf dem steilen Weg bergab zu sehr ins Rollen gekommen. Die Kartoffeln wurden im Keller gelagert, dessen Eingang in vielen Häusern in der Stube lag. Man brauchte nur einen Deckel zu heben und mit einer Leiter hinunter zu steigen.

Im Spätherbst musste das Haus für den oft recht früh einsetzenden Winter vorbereitet werden. Die Häusler schleppten im Wald grünes Reisig zusammen und holten den Heger, der es abschätzte und den Preis bestimmte. Dann durfte das Fuder Reisig heimgefahren werden. Die Hauswände wurden außen durch eine dicke Reisigschicht vor der strengen Kälte geschützt. Man nannte diese Arbeit "versetzen".


Adlergegirgshäuschen im Winter

Zu Allerseelen wurden die Gräber mit Reisigzweigen geschmückt. Dauerhafte Blumen stellten die Frauen aus Krepppapier her. In der damaligen Zeit hatten die Menschen ein natürliches Verhältnis zum Tod, er gehörte zum Leben dazu. Man verdrängte den Gedanken an ihn nicht, man behielt alte Angehörige bis zu ihrem Tod in der Familie. Die alten Menschen erhielten keine Rente. Es gab auch keine Altersheime. So war es eine Selbstverständlichkeit, dass die alten Eltern bei ihren Kindern wohnten, meist bei dem Kind, dem sie das Haus übergeben hatten. In Not gerieten die alten Menschen, die keine Kinder hatten. Sie mussten um das tägliche Brot betteln gehen. Das war ein schweres Los.

Meine Mutter erblindete im Alter und fand die notwendige Betreuung besonders durch meine Schwester Annla. Sie trug ihr Schicksal mit großer Geduld und war für jede kleinste Hilfe sehr dankbar. Bei jedem Sterbenden wurde eine geweihte Kerze angezündet. Die Angehörigen riefen den Priester und nahmen es damit sehr genau. Er sollte die Krankensalbung, "Letzte Ölung" genannt, spenden und die hl. Kommunion bringen. Der Priester ging weite Wege zu Fuß auf diesen Versehgängen, begleitet vom Kirchendiener, der mit einem Glöckchen läutete. Begegnete man dem Priester mit dem hl. Brot, kniete man nieder und erhielt den Segen.

War der Tod eingetreten, verkündete das die Sterbeglocke der ganzen Bevölkerung.
Der Verstorbene wurde auf das Totenbrett gelegt und mit einem weißen Tuch zugedeckt. Er blieb bis zur Beerdigung im Haus. Der Tischler brachte den Sarg, und der Tote wurde angekleidet hineingebettet, Kreuz und Rosenkranz in seine Hände gelegt. Der Frau zog man in alter Zeit ihr Brautkleid an, dem Mann den Anzug, den er als Bräutigam getragen hatte. Meine Mutter trug als Braut ein violettes Samtkleid, das sie später nur bei besonderen Festlichkeiten in die Kirche anzog. "Das ist mein Sterbekleid in den Sarg", sagte sie öfter. Wir erfüllten ihr diesen Wunsch.

Starb ein unverheiratetes Mädchen, wurde es als Braut angezogen, ein lediger Bursche als Bräutigam. Brautjungfern und Junggesellen wurden bestellt. Die Brautjungfern gingen als "weiße und schwarze Braut" beim Begräbnis mit. Ich trug bei meiner mit 19 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Schulfreundin, Dynter Schusters Mariela, als "schwarze Braut" ein schwarzes Kissen mit einer zerbrochenen, mit Myrte geschmückte Kerze. In der damaligen Zeit starben viele Menschen, auch junge, manchmal ganze Familien, an dieser früher noch unheilbaren Krankheit.

Eine alte Frau, die Franzla, ging vor einem Begräbnis von Haus zu Haus "zu Growe bieta". Sie sagte in jedem Haus zum Beispiel beim Tode meines Vaters: "Gelobt sei Jesus Christus! Die Schmoranzen lett schien grissa on bieta, ob ihr nee mecht em Schmoranz of an Denstich em zahne zu Growe giehn." Jeder gab ihr eine kleine Gabe, von der die alte Frau ihr Leben zu fristen versuchte.

Die Leiche wurde in der Stube im offenen Sarg aufgebahrt. Die Trauergäste beteten und besprengten den Toten mit Weihwasser, bis der Priester kam und ihm das letzte Geleit gab. Viele Menschen schlossen sich an. Wenn die Träger den Sarg über die Türschwelle trugen, zeichneten sie mit dem Sarge dreimal ein Kreuz. War der Verstorbene Mitglied eines Vereins, z.B. des Veteranenvereins, der Feuerwehr oder des Turnvereins, rückten diese Vereine aus. Die Blaskapelle spielte Trauerlieder, und es wurde gebetet, mochte der Weg noch so weit sein, der Sarg wurde vom Haus weg bis in die Kirche zum Requiem und auf den Friedhof getragen. Acht Träger wechselten sich ab. Am Grabe meines Vaters wurden Lieder gesungen, die damals bekannt waren: "Erdenfreud´- Erdenleid, alles währt nur kurze Zeit" und "Über den Sternen, da wird es einst tagen". Nach dem Begräbnis kehrte die Trauergesellschaft in ein Gasthaus ein.


Gießhübler Friedhof (Foto 2000)

Manchmal fiel schon zu Allerheiligen Schnee, und bald kam auch die Adventszeit mit ihren frühen Roratemessen heran. Die Weihnachtszeit war für uns Kinder die schönste Zeit des Jahres. Es hatte schon geschneit, wenn der Nikolaus kam. Vor dem hatte ich Angst. Wenn ich das Kettenrasseln und Poltern hörte, war ich schnell unter dem Bett, und keine zehn Pferde hätten mich hervorbringen können. Die Lehrer übten mit uns Schulkindern jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit ein Theaterstück ein, das wir auf der Bühne im Hotel Jirku aufführten.

Ich erinnere mich noch an ein Theaterstück, das hieß "Das goldene Lachen". Migula Liesel spielte die Hauptrolle. Sie war von einer bösen Hexe verzaubert worden. Migula Erna war die Mutter, ich eine Elfe im Märchenwald. Wir führten das Stück auf Wunsch der Bevölkerung öfter auf, einige Mal in Gießhübel, einmal in Deschnei. Das Eintrittsgeld in dieses "Kindertheater" sollte besonders bedürftigen Schülern helfen. Wir wurden vorher schon von unseren Lehrern befragt, was wir am notwendigsten bräuchten. Die Lehrer gaben sich große Mühe, die Not ihrer Schüler etwas lindern zu helfen. In einer "Weihnachtsbescherung" wurden in der Schule die Kleidungsstücke ausgegeben.


Gießhübler Schulkinder Jahrgang 1933-36 im Winter

Auch unsere Eltern waren bemüht, uns Kindern trotz der Not zu Weihnachten Freude zu bereiten. Wir freuten uns ja so auf den Heiligen Abend! Wenn das Christkind kommen sollte, schmückten die Eltern ganz heimlich "eim Stiewla" (Stübchen) nebenan "s´Christbämla" mit einigen Glaskugeln, mit Feigen, Äpfeln, Nüssen, Johannisbrot und etwas Gebäck. Wegen des Platzmangels stellte der Vater den Christbaum auf ein Brett am Webstuhl. Wir Kinder konnten ihn von unten aus mit großen Augen bewundern, aber keines der Kinder konnte heimlich davon naschen. Der essbare Baumschmuck wurde später ganz gerecht verteilt.

Einmal aber kletterte unsere Katze den Webstuhl hinauf. Vielleicht wollte sie mit den glitzernden Kugeln spielen, die sich leicht im Kerzenschein bewegten. Sie riss das Bäumchen um und jagte uns einen gehörigen Schrecken ein. Die brennenden Kerzen hätten zu einer ernsten Gefahr für uns werden können. Am Heiligen Abend gab es neunerlei Gerichte. Man aß von jedem Gericht nur wenig. Es gab gebratene Hirse, damit das Geld nicht ausging, Semmelmilch, Pilzkließlan, Ritschka, ein Gericht aus großen Graupen, Kraut und Erbsen. Äpfel, Nüsse, Birnen- und Apfelspalten kamen der Reihe nach auf den Tisch. Von jedem Gericht wurde etwas abgenommen und in den glühenden Ofen "für die Armen Seelen" gegeben. Selbst die Krümel auf dem Tisch wurden sorgsam verwahrt. Am ersten Weihnachtsfeiertag ging mein Vater mit den Bröseln von Baum zu Baum und sagte:

Bämla, ich breng die Brinkalan,
doß de gude Früchte trägst."

Es gab auch noch andere Bräuche, zum Beispiel, dass den Tieren im Stall am Heiligen Abend ein Stück Brot getragen wurde, oder man befragte das "Orakel", ob man im kommenden Jahr im Elternhaus bleiben würde oder nicht. Dazu setzten wir uns mit dem Rücken zur Tür auf den Fußboden und warfen einen Pantoffel über den Kopf. Zeigte seine Spitze zur Tür, ging man aus dem Haus. Jeder wusste natürlich, dass das Orakel nicht so unbedingt glaubwürdig war, aber es bereitete uns Spaß, es zu befragen.

Bei unserem Onkel, dem Pohner Bäcker, bestellte Mutter kurz vor Weihnachten für jedes Kind einen Striezel, den wir am Heiligen Abend geschenkt bekamen. Die Größe des Striezels entsprach dem Alter des Kindes. So bekam ich als jüngstes Kind den kleinsten Striezel. Es bereitete uns Kindern besondere Freude, wenn wir uns in den Weihnachtstagen selbst Scheiben abschneiden durften, denn der Striezel gehörte ja ganz allein uns.


Gießhübel zur Weihnachtszeit

In die Christnacht ging jeder, der es nur irgendwie konnte. Die jungen Mädchen knüpften sich in die vier Ecken ihres Taschentuchs einen Zettel mit dem Namen eines Burschen, der ihnen gefiel. Während der hl. Wandlung öffneten sie heimlich eine der Ecken und waren gespannt, welcher der vier Namen zum Vorschein kommen würde. Der Bursche, dessen Name es war, sollte später der Ehemann werden, auch eine Art Orakel, das sich wohl selten genug erfüllte. Am liebsten hätten die Mädchen ihr Geheimnis vom zukünftigen Ehemann gleich einander erzählt, aber während der Christmette mussten sie noch Haltung bewahren. Dafür gab es nach der Kirche draußen ein Getuschel und ein Lachen.

Das Jahr neigte sich seinem Ende zu, und so, wie es die Menschen in der alten Zeit mit Gott am Neujahrsmorgen begonnen hatten, beendeten sie es am Silvestertag mit der Jahresschlußandacht, der "Danksagung". Trotz mancher Not und Entbehrung gab es immer noch viel Grund zum Danken.

Wir Adlergebirgler waren tief in unserer Heimat verwurzelt, darum traf uns ihr Verlust so schwer. Fast 40 Jahre lebe ich nun schon weit entfernt von unserem Adlergebirge, aber die Erinnerung an die verlorene Heimat, ihre Menschen und alles, was ich in ihr erlebt habe, kann mir niemand nehmen. Sie bewahre ich in mir bis an mein Ende. 


Aus: "Trostbärnla"1986 , Seite 68 ff.