Die nationalen
Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Deutschen im Lichte der
Quellen
Václav Chyský
Die nationale Rivalität der Tschechen und der Deutschen um die Vorherrschaft in den böhmischen Ländern und die daraus resultierenden Folgen stellen ein Flechtwerk dar, das verzwickter ist als der gordische Knoten, ein Flechtwerk, das durch das Durchhauen mit dem Schwert in Form der Vertreibung der Bürger deutscher Abstammung nicht gelöst wurde. Seit fünfzig Jahren glimmt dieses historische Ereignis – offen oder verborgen – im Bewusstsein beider Völker, und nach dem Kollaps des kommunistischen Systems geriet es wie ein Bumerang wieder auf die Tagesordnung. Beleg dafür ist die Polemik, die zurzeit von Seiten der tschechischen, deutschen und österreichischen Presse geführt wird. Und dass man sie zweckbestimmt auch für die innenpolitische Bühne ausnützen kann, ist offensichtlich.
Die Theorien und Projekte ethnisch begründeter Bevölkerungstransfers wurden auf der politischen Bühne allen Ernstes schon zu Ende des 19. Jahrhunderts erörtert, dann vor dem Ersten Weltkrieg, und im Jahre 1923 wurden sie mit der Konferenz in Lausanne im Zusammenhang mit dem türkischen-griechischen Bevölkerungsaustausch vertraglich sanktioniert. “Es besteht kein Zweifel, dass die Vertreibung 1945 –1946 ein barbarischer Schub in die Welt der kollektiven Schuld gewesen ist; gleichermaßen kann es keinen Streit darüber geben, dass diese barbarischen Vorstellungen bereits vorher der deutsche Nationalsozialismus aktualisiert und durchgeführt hat.“ ( B. W. Löwenstein in: Wir und die Anderen. )
Die tschechische Nachkriegsöffentlichkeit und -publizistik hat nach dem tiefen Trauma des Protektorats die Vertreibung gebilligt, und die kritischen Artikel und Leserbriefe in den Zeitschriften Obzory und Dnešek zu den brutalen Übergriffen, die mit dem Transfer verbunden waren, wurden stillschweigend übergangen.
Nach dem kommunistischen Putsch von1948 äußerte sich die offizielle tschechoslowakische Politik zum Vertreibungsproblem nur in Form ideologischer Polemik mit dem Ziel, in der Bevölkerung Ängste vor dem deutschen Revanchismus zu schüren, vor dem angeblich nur das Bündnis mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten schützen würde. Diese Auffassung hat dann das Thema der ethnischen Säuberungen aus den akademischen Institutionen ausgeschlossen, mit der Folge, dass aus opportunistischen Gründen keine wissenschaftliche Aufarbeitung des so schwerwiegenden Kapitels der modernen tschechoslowakischen Geschichte stattfand.
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In der Zeit des „Prager Frühlings“ wurde zwar die Frage der Vertreibung angeschnitten, aber zur Entfaltung einer systematischen Diskussion mangelte es an Zeit. Und so mussten weitere zehn Jahre verstreichen, bis im Jahre 1978 in Pavel Tigrids Exilzeitschrift Svĕdectví die Arbeit des slowakischen Historikers Jan Mlynárik (Pseudonym Danubius) Thesen zur Aussiedlung der tschechoslowakischen Deutschen erschien und endlich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Aussiedlung provozierte. Die Diskussion lief unter interessierten Fachleuten vorwiegend in den Exilperiodika, doch ohne Teilnahme der breiten tschechoslowakischen Öffentlichkeit.
Demgegenüber betrieb man auf der deutschen Seite seit dem Kriegsende nicht nur Polemik zum Transferproblem, vielmehr sind die ethnischen Säuberungen auch zum Gegenstand einer seriösen wissenschaftlichen Forschung geworden. Aus psychologischer Sicht ist das verständlich, da sich jede Nation primär mit der Pflege ihrer eigenen Wunden beschäftigt. Und die Tschechen konzentrierten sich auf ihre eigenen Kriegstraumata. Das Ergebnis der deutschen Forschung über die Transfers der Nachkriegszeit ist eine Vielzahl von Buchtiteln, Studien und Statistiken, die vorwiegend von spezialisierten Arbeitsstellen erstellt wurden, nämlich dem Collegium Carolinum und dem Sudetendeutschen Archiv in München., ferner vom Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Osteuropa an der Heinrich-Heine- Universität in Düsseldorf und von der Universität Leipzig. Und das erklärt, warum man nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der tschechischen Fachliteratur kein quantitatives und qualitatives Gegengewicht zum Vorsprung der deutschen Wissenschaft vorweisen konnte.
Die Situation hat sich allerdings geändert. Wenn man heute, zehn Jahre nach dem kommunistischen Zusammenbruch, einen Blick in die Regale guter Buchhandlungen wirft und die Fachpresse verfolgt, dann sieht man, welchen Fortschritt die tschechische Historiografie und Politologie bei der Aufarbeitung verdrängter traumatischer Themen gemacht hat. Die breite Öffentlichkeit nimmt diesen Fortschritt weniger zur Kenntnis und bleibt somit nach wie vor eine empfängliche Zielgruppe für verantwortungslose Populisten und deren Politparolen. Wenn es jedoch um das Sammeln von Wählerstimmen geht, dann zerren auch so manche bayerische und österreichische Politiker gerne die Nachkriegsvertreibungen aus dem historischen Zusammenhang.
Neben ungleichen Maßstäben der politischen Verantwortung für eigene und gegnerische Verbrechen im Zweiten Weltkrieg – die eigenen werden von beiden Seiten bagatellisiert – steht der deutsch-tschechischen Diskussion auch im Wege, dass aus der breiteren Gesellschaftsbasis die Zweisprachigkeit verschwunden ist. Damit ist der Zugang zur Literatur des anderen verbaut, und so entsteht ein Nährboden für die Pflege von Vorurteilen.
Die Kenntnis beider Sprachen, die in den böhmischen Ländern gesprochen wurden, oder mindestens die Fähigkeit, sich zu verständigen, war kein Privileg der Gebildeten. Wiewohl die Zweisprachigkeit asymmetrisch war – da mehr Tschechen deutsch sprachen, als Deutsche tschechisch – war in dem Staat, der seit Jahrhunderten zweisprachig war, die Kenntnis der jeweils anderen Sprache für viele Berufe Existenzbedingung.
Als Folge der heutigen sprachlichen Verarmung ist die Möglichkeit der direkten Kenntnisnahme der historisch-politischen Literatur und Publizistik der anderen Seite wesentlich reduziert. Daraus folgt das Angewiesensein auf Übersetzungen, und da nur ein unerheblicher Teil der Quellen und Publikationen übersetzt wird, ist der Stand der gegenseitigen Information kläglich. Daraus resultiert auch eine reduzierte Übersicht über die Standpunkte der anderen Seite, abgesehen davon, dass man dem Risiko ausgesetzt wird, das aus inkorrekten Informationen zweiter Hand entsteht sowie aus vorsätzlich verbreiteten Ungenauigkeiten und Unwahrheiten. Mit solchen Tatsachen sowie auch mit der oberflächlichen Kenntnis des Problems muss ich mich sowohl auf dem tschechischem als auch auf deutschem Parkett leider oft auseinandersetzen.
Das Risiko einer einseitig
interpretierten Geschichtsschreibung versucht die zweisprachige Publikation Odsun – Die
Vertreibung der Sudetendeutschen / Vyhnání
sudetských Němců zu vermeiden. Sie wurde von Roland J. Hoffmann und Alois
Harasko verfasst und erschien
im Jahre 2000 beim Sudetendeutschen
Archiv in München. Das Buch widmet
sich der Analyse und Dokumentation
der Ursachen, der Planung und Durchführung
der ethnischen Säuberungen
in Europa, beginnend mit der
blutigen türkisch-griechischen
Auseinandersetzung in den zwanziger
Jahren des 19. Jahrhunderts und mit
der Revolutionsepoche des Jahres
1848. Die Autoren betonen ausdrücklich: „Nicht ein Steinbruch soll die
Dokumentation sein, der zur Belebung von Ressentiments oder gar zum Werfen aus
Glashäusern einladen könnte.“
Von
den geplanten zwei Bänden ist bis
dato der erste erschienen, der sowohl in der Einführung als auch im
Dokumentationsteil den Zeitraum von 1848 bis 1939 abdeckt.
Die Einführung
über “Die Vertreibung der Sudetendeutschen in geschichtlicher Perspektive“, geschrieben von Roland J. Hoffmann, ist unterteilt in sechzehn
Abschnitte:
1.
Das
Janusgesicht des Prozesses moderner
Nations- und Nationalstaatsbildung im Zeitalter der
Fundamentaldemokratisierung
2.
Die
Radikalisierung nationaler bzw.
ethnischer Konflikte unter den Bedingungen
internationaler Allianzenbildung und
Konfrontationspolitik
3.
Multinationaler Staat und nationale „
Säuberung“
4.
Nations-
und Nationalstaatsbildung im Europa des Wiener Kongresses
5.
Die
„Wiedergeburt“ Griechenlands und der griechisch-türkische Konflikt als
Paradigma
6.
Der
Völkerfrühling von 1848/49 und der deutsch-tschechische Konflikt als
Paradigma
7.
„Kein
Volk auf Erden ist berechtigt, zu seinen Gunsten von seinem Nachbarn die Aufopferung seiner
selbst zu fordern“ - Palackýs Plädoyer für den multinationalen
Staat
8.
Mechanismen, Strategien und Perspektiven der
Koexistenz und des Konfliktes von Deutschen und Tschechen im multinationalen
österreichischen Kaiserstaat 1848/49
9.
Das
Damoklesschwert des intransigenten Nationalismus
10. Vertreibungsängste und Vertreibungsdrohungen 1848/
49
11. Vom Ende des Deutschen Bundes 1866 und dem
österrrechisch-ungarischen Ausgleich 1867
bis zum Scheitern des
„böhmischen Ausgleichs“ Anfang 1914
12. Der zweifache Paradigmenwechsel:
Slowaken als zweites Staatsvolk
–Vom Bekenntnis zum multinationalen Staat
zum Nationalstaat
13. Negativismus und Aktivismus –
Nationalstaatliche Konfrontation oder multinationale
Kooperation
14. Von der Machtergreifung der NSDAP im
Deutschen Reich bis zum Münchner Abkommen und zur Errichtung des „Protektorats Böhmen und
Mähren“
15. Zu den Begriffen Vertreibung, nationale Reinigung, ethnische Säuberung und
odsun/ Abschiebung
16. Hinweise für den Leser
Der
Dokumentationsteil bringt symptomatische Texte für die jeweiligen Zeiträume der
nationalen Auseinandersetzungen und enthält Fotografien bzw. Fotokopien von
zeittypischen Dokumenten und Illustrationen. Alle Dokumente werden in
der Originalsprache angeführt (tschechisch oder deutsch) und ungekürzt in die
jeweils andere Sprache übersetzt. Eine Ausnahme bilden nur einige wenige englisch und
französisch geschriebene Schriftstücke. So erfährt der Leser,
dass sich der Nationalismus beider Völker in den böhmischen Ländern aus gleichen ideologischen Quellen
gespeist hat und dass er gleichartige Paradigmata
aufweist.
Die Grundlage des
ethnisch motivierten Nationalismus (im Gegensatz zum westeuropäischen Nationalismus, bei dem die ethnische Abstammung keine
bestimmende Rolle spielt), bildet die frühromantische Idee von Johann Gottfried Herder, dass „den natürlichen Staat ein Volk mit
einem (homogenen) nationalen Charakter“ und die Sprache das eigentliche Wesen
der Nation bildet.
Auf diese Weise
ideologisiert, wandelte sich jedoch die Sprache von einem Kommunikationsmittel
und Kulturgut in ein Kampfmittel und
zum Symbol der Vorherrschaft. Zu diesen Sprachkonflikten kamen noch zusätzliche Giftmischungen in Form der rassistischen und antisemitischen Ideen des französischen Diplomaten Joseph Arthur
Gobineau und von Houston Stewart Chamberlain. Der
Leser hat die Möglichkeit, sich mit
Texten der Ideologen der Alldeutschen Bewegung Georg Ritter von Schönerer und Paul
Anton de Lagarde zu beschäftigen,
sowie mit dem alldeutschen Plan von Rudolf Martin (Pseudonym: Otto Richard Tannenberg) zur
Besiedlung Mitteleuropas durch die Deutschen und zur Vertreibung der
Südslawen und der Tschechen aus
ihren Siedlungsgebieten.
Der renommierte
deutsche Historiker Theodor Mommsen verewigte sich in der Geschichte des Nationalismus Mitteleuropas mit dem Spruch : „Seid hart! Vernunft
nimmt der Schädel der Czechen nicht
an, aber für Schläge ist er zugänglich.“ Solche und ähnliche Texte sind zur
beliebten Lektüre von Adolf Hitler
geworden, der sie in sein Programmbuch Mein Kampf aufgenommen
hat. Die
Sudetendeutsche Partei
Konrad Henleins verlangte auf dem
Karlsbader Parteitag vom 24. April
1938 nicht nur die Autonomie für die von den Deutschen besiedelten Gebiete,
sondern auch das freie Bekenntnis
zur „deutschen Weltanschauung“.
Leider haben für dieses nationalsozialistische
Programm 1 279045 Wähler gestimmt.
Dieser Punkt der sudetendeutschen Bestrebungen bleibt bei sudetendeutschen Funktionären
oft unerwähnt. Das rezensierte Buch verschweigt diese grundlegenden Tatsachen nicht.
Tschechische
Texte aus der späteren Phase der
„nationalen Wiedergeburt“ waren nicht weniger kämpferisch. In xenophoben Parolen wurde angedeutet, dass, wenn die
Deutschen der tschechichen emanzipatorischen Bewegung und dem Streben nach einer
tschechischen Staatlichkeit im Wege stünden, man sie wie Eindringlinge und
Kolonisten jagen und aus dem Land vertreiben könnte. Zwischen diesen
Mühlsteinen saßen die Juden, und mancher Tscheche würde sich über das antisemitische Pamphlet Jan Nerudas Aus
Angst vor den Juden (1870)
wundern, oder über die
antijüdischen Tiraden des späteren Prager Primators JUDr. Karel Baxa und des Herausgebers der Zeitschrift Vyšehrad Jan Klecanda
zur Zeit der Sprachenkämpfe im Jahre 1897 in Prag.
Elias Canetti
kommt in seinem soziologischen
Essay Die Masse und die Mach“ zu dem Resümee, dass zu den auffallendsten
Charakterzügen im Leben der Masse
etwas gehört, was man als
Gefühl der Bedrohung
bezeichnen kann. Canetti schreibt, dass „diejenigen,
die ein für allemal zu Feinden deklariert wurden, tun können, was sie wollen – sie können
entgegenkommend sein, oder sie können scharf handeln, mit Verständnis oder mit
kühlem Verstand, hart oder mild,
das alles hilft nichts, alles wird
als Böswilligkeit aufgefasst, als feindselige Gesinnung, das andere
Volk in gezielter Absicht zu
vernichten, egal ob auf offene
oder
auf heimtückische Weise".
Solche
Verhaltens- und Denkmuster sind weit verbreitet. Sie sind Bestandteil der
Ideologien des Nationalismus, des
Antisemitismus, der Religionsbewegungen und der kommunistischen
Klassenlehre.
Die Dokumente des
hier rezensierten Buches belegen,
dass die Empfindung der Bedrohung die Essenz beider radikaler
Pan-Bewegungen war, nämlich des radikalen Pangermanismus und des Panslawismus.
Auch diese beiden Bewegungen missbrauchten den frühromantischen Gedanken
Herders. Václav Černý sagt in
seinem
unvollendeten Essay Die Entwicklung
und die Verbrechen des
Panslawismus
(Vývoj a zločiny panslavismu):
“Der Panslawismus ist ein tschechisches Produkt aus deutschem
Materia.l“ Mit
anderen Worten, bei beiden Pan- Bewegungen
handelte es sich um einen Spiegeleffekt der Angst vor einer Bedrohung und einer Majorisierung durch das andere
Ethnikum, was dann in den
Äußerungen, in den politischen Zielen und Plänen der geistigen und politischen Führer beider
Nationen verbalisiert wurde.
So schraubte sich die Spirale des
gegenseitigen Hasses immer weiter empor.
Die Nationalismen aller europäischen Völker verfolgten immer nur ihre eigene gezielt
machiavellistische Politik des sacro egoismo. Arthur Gobineau, der
ideologische Vater des Rassismus,
hielt die ethnische Problematik für
das Schlüsselprinzip der Politik.
Auch T. G. Masaryk, ein unbestrittener
Humanist, sagt in Karel Čapeks Gesprächen mit T. G. Masaryk: „Nationalismus und Sozialismus sind die jüngsten politischen Kräfte; deshalb beinhalten sie noch so viel Gärstoff.
Früher gab es keine nationale Fragen – die Kirche mit ihrem Universalismus
verband alle Völker: die Staaten waren
dynastisch und territorial, jedoch nicht national. Freilich, es gab
Xenophobie – schon bei unserem Dalimil wird man sie finden, aber ein bewußter
Nationalismus ist das Kind erst des letzten Jahrhunderts.“
Den Ausweg aus den nationalen Konflikten suchte man in ethnischen Säuberungen – das hieß Aussiedlung , Trennung und „Transfer“ der konkurrierenden ethnischen Gruppen in andere Länder bedeutete. Das rezensierte Buch verfolgt die historische Entwicklung der Idee des gewaltsamen und des „humanen“ Bevölkerungsaustausches. Der bayerische Beamte Siegfried Lichtenstädter sah 1898 im Bevölkerungsaustausch eine präventive Maßnahme gegen inhumane ethnische Konflikte. Seine Idee hat er im Buch Die Zukunft der Türkei. Ein Beitrag zur Lösung der orientalischen Frage formuliert. Der Anlaß zur Veröffentlichung dieser Schrift waren die Massaker, die im Zusammenhang mit dem türkisch-griechischen Krieg 1896/97 verübt wurden – ein zweiter Anlaß die Unruhen, die in Österreich-Ungarn 1897 wegen der Sprachenverordnungen des Ministerpräsidenten Badeni ausgebrochen waren. Mit seinen Vorschlägen hoffte Lichtenstädter „die Greuel, die dereinst sich ereignen werden, mit Naturnotwendigkeit sich ereignen müssen, ungeschehen zu machen“. Es ist eine tragische Ironie seines persönlichen Schicksals, dass er mit seinem Buch das eigene Ende vorhergesagt hat, da er – jüdischer Abstammung – 1942 im Ghetto von Teresienstadt gestorben ist.
Die
Urheberschaft für die Idee des
Bevölkerungsaustausches beanspruchte auch der Arzt und Ethnologe George Montadon mit der Schrift Frontières
nationales. Détermination objective de la condition primordiale nécessaire à
l‘obtention d‘une paix durable
aus dem Jahre 1915, in
der er die transplantation von Sprachgruppen als Methode für die Gestaltung
moderner Staaten befürwortete. Anlässlich einer 1916 in Lausanne tagenden Nationalitätenkonferenz konzipierte er in einem Memorandum
die
Transplantation ganzer Bevölkerungsgruppen in Mittel- und
Osteuropa. Später, in den dreißiger
Jahren und insbesondere unter dem Vichy-Regime in Frankreich, ist Montadon zum
besessenen Antisemiten geworden.
Die politischen
Kräfte beider Ethnien in den böhmischen Ländern waren allerdings nicht symmetrisch
verteilt, da hinter dem deutschsprachigen Element jenseits der böhmischen (tschechoslowakischen)
Staatsgrenze eine erheblich größere
Nation stand. Und destotrotz
befürchteten die
Deutschböhmen eine tschechische Majorität, der sie durch Anschluss an den
Deutschen Bund, dann an das Bismark-Reich, danach an Österreich und schließlich an das von den Nazionalsozialisten regierte Dritte Reich entkommen wollten.
Mit ihren zentrifugalen Bestrebungen, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkamen (heim ins Reich), haben die
Deutschböhmen nach der
Machtübernahme Adolf Hitlers nicht zur Kenntnis genommen, welche
Entartung die
nationalsozialistische Ideologie in sich barg. Und diese politische
Kurzsichtigkeit ist ihnen zum
Verhängnis geworden. Übrigens ist es
Hitler gewesen, der
schon während des Krieges
Umsiedlungen
durchführte – nicht nur der nichtdeutschen Bevölkerung, sondern auch der sogenannten „Volksdeutschen“,
die zum Zweck der Germanisierung auch in die böhmischen Länder umgesiedelt wurden. Diese Bemerkung ist nicht gedacht als
Entschuldigung der Vertreibung der
Deutschen 1945/46, sie soll jedoch auf die ideologischen Kategorien hinweisen,
in denen ein beträchtlicher Teil
der politischen Führer gedacht hat
und die damit auch die
Bevölkerung
beeinflussten.
Es hat sicherlich
nicht zur politischen Stabilität der Tschechoslowakischen Republik beigetragen, dass sie sich als Nationalstaat der Tschechen und Slowaken deklarierte, womit die Bedeutung anderer Nationalitäten (3 000 000
Deutsche, 700 000 Ungarn, Polen und Ruthenen) als staatstragende Elemente
unnötig geschwächt wurde. Auch hat
sich gerächt, daß es bei der
Ausarbeitung der Verfassung der Tschechoslowakischen Republik vom 29. Februar
1920 zu keinem Vertrag mit den
anderen Nationalitäten kam. Grund dafür war sowohl die tschechische
als auch die deutsche
nationale Unnachgiebigkeit,
die durch Äußerungen prominenter Politiker
der streitbaren Nationalitäten im rezensierten Band belegt wird. Das
Buch des tschechischen Denkers Emanuel Radl Der
Krieg der Tschechen mit den Deutschen ist in
diesem Sinne geradezu
hellseherisch, nämlich da wo Radl
die Nation nicht als Totem, sondern
als Aufgabe ansieht.
Leider hat sich auch nicht die Auffassung von Präsident T. G. Masaryk durchgesetzt, „dass aus unserer Politik sämtlicher Chauvinismus ausgeschlossen sein muss, allerdings auf beiden Seiten. Nicht nur unsere Deutschen, sondern in gleicher Weise auch die Angehörigen anderer Nationen sind jetzt unsere Mitbürger, und daher sind sie im Genuss demokratischer Gleichberechtigung. Es versteht sich, wer gleiche Rechte haben will, muss loyal gleiche Pflichten übernehmen, er muss die Verfassung und die Gesetze respektieren.“
Die Politik T. G.
Masaryks hat nur bescheidenen Erfolg verzeichnet, wegen der Kleinkrämerei tschechischer wie auch deutscher
Politiker und Wähler. Und beide Nationen der böhmischen Länder mussten dafür einen hohen Preis bezahlen.
Der erste Teil
der hier dokumentierten tchechisch-deutschen Auseiandersetzungen –beginnend mit
dem Völkerfrühling 1848 über die Entstehung der
Tschechoslowakischen Republik und
ihre Nationalitätenprobleme bis zu
dem unseligen Münchner Abkommen -
endet mit einer Fotodokumentation
über tschechische Vertriebene aus den Grenzgebieten, mit Fotos von der in Prag einmarschierten Wehrmacht und mit der
Erinnerung des sozialdemokratischen Politikers Wenzel Jaksch an seine
überstürzte Flucht aus Prag in die Emigration. Er und Edvard Beneš, beide mussten fliehen, um sich in
London wieder zu treffen.
Das hier
rezensierte Buch Odsun – Die Vertreibung der Sudetendeutschen/
Vyhnáni sudetských Němců ist ein
Musterbeispiel dafür, wie man den beiden Nationen, die nötigen
Kenntnisse über die immer noch
nicht geheilten Traumata der tschechisch-deutschen Konfliktgemeinschaft vermitteln und dieses Wissen auf einer vergleichbaren
Informationsbasis verbreiten kann.
Ich halte es
für eine irrationale Vorstellung,
dass nur eine Nation (die eigene
) im Besitz der absoluten politischen Wahrheit ist. Das gilt sowohl für die Deutschen
als auch für die Tschechen.
Beim Aufarbeiten
politischen Unrechts (Alexander und Margarete Mitscherlich nennen das
Trauerarbeit) könnte
eine alte kirchliche Praxis (contritio – confessio –
satisfactio, Reue – Bekenntnis – Wiedergutmachung )
psychotherapeutisch sehr behilflich sein.
Der tschechische
Philosoph Jan Patočka suchte den
Sinn der Geschichte im Dialog. Um
den Sinn der
Geschichte zu ergründen, muss der Dialog darüber geführt werden.
Das rezensierte Buch bietet beiden
Nationen genug Material zum Nachdenken und zum Dialog, weil es ein möglichst hohes Maß an Objektivität anstrebt. Ich wünschte mir, dass sowohl
tschechische als auch deutsche Leser selbstkritisch über den Texten nachdenklich
werden und auf Distanz zu
traditionellen Vorurteilen gegenüber dem anderen Volk gehen. Ich wünschte mir ebenfalls, dass
vergleichbare zweisprachige Arbeiten aus der Feder tschechischer Autoren
folgten.
Wenn ich mich zum
Buch kritisch äußern möchte, dann betrifft das den Titel „Odsun/ Vertreibung.
Odsun/Vertreibung war nämlich das
Endprodukt des fatalen langjährigen politischen Verhaltens beider Nationen. Die Autoren bringen
durchaus mehr, wenn sie in dieser Publikation bis zu den Wurzeln des
Nationalismus und der daraus entsprungenen Doktrin der „ethnischen
Säuberungen“ zurückgehen und die
ganze Entwicklung dieser Theorie, auf deren Basis die „Transfers“ ethnischer Gruppen in vielen Gebieten Europas schon lange vor dem Jahre 1945 praktiziert wurden, analysieren. Und das immer nach dem
Grundsatz vae victis !
Mit dem
Titel Odsun
/Vertreibung verengen und
verflachen die Autoren unnötig den
tieferen Inhalt ihres
verdienstvollen Werkes.
Am Ende möchte ich einen weisen Ausspruch aus dem europäischen Mittelalter anführen, -als Beispiel eines übernationalen Denkens, dessen Ursprung man im 11. Jahrhundert beim hl. Stephan, König von Ungarn, vermutet: „Regnum unius lingue, unius moris, fragile ac imbecile est“ ( Ein Königreich einer Zunge und einer Sitte, ist labil und schlaff).
Kann man diese
mittelalterliche Weisheit zur Abwendung
einer veralteten nationalistischen Denkweise für das Europa der Zukunft anwenden
– für eine Abkehr vom Denken in
Begriffen von Angst und Aggression und ewigen Beschuldigungen?
Ich selbst bin
davon überzeugt, dass die Worte des hl. Stephan als Leitidee für die Europäische Union geeignet
wären.
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Roland J. Hoffmann , Alois Harasko: Odsun - Die Vertreibung der Sudetendeutschen/ Vyhnání sudetských Němců, Teil 1(1848/49-1938/39). Veöffentlichung des Sudetendeutschen Archivs.München 2000.
Die tschechische Originalversion der Rezension wurde im Juli 2002 in der Revue für mitteleuropäische Kultur und Politik „Střední Evropa“ Nr. 112, Jgg. 18 (S. II-VII) veröffentlicht.