Bange Stunde

Brigitte Siepmann

Sie kamen in der Nacht. Verhaltenes Hufgetrappel meldete ihren Anmarsch auf dem Ringplatz. Am Brunnen mit dem Kriegerdenkmal sammelten sie sich. Man hörte das Scharren und Schnauben ihrer Pferde. Der Schwall eines kehligen konsonantenreichen Idioms erreichte die anliegenden Häuser und drang durch die Fenster des Obergeschosses der Pfarre von Gießhübel. Hier lebte seit längerem auch eine evakuierte Witwe mit ihren beiden kleinen Kindern. „Sind das die Russen, Mutter?“ fragt das achtjährige ältere Mädchen. „Bleib ganz ruhig“, hörte es die Mutter so leise flüstern, als fürchte sie, die da draußen könnten es hören.. Dann warf sie sich, ohne Licht zu machen, etwas über und spähte in die Nacht, die plötzlich so zeitlos geworden schien. Das Mädchen war jetzt hellwach und im Zimmer atmeten sie die Angst.

Da löste sich ein Pulk von Stiefelschritten vom Brunnen und marschierte direkt auf das Haus zu. Nein, sie gingen nicht weiter, sie gingen nicht vorbei. Pochte das Herz so laut oder klopfte es bereits unten an der Tür? Es wurde laut draußen und die Mutter ging hinunter. Das Kind folgte ihr und kauerte sich in die Stiegen. In der Dunkelheit erkannte es die helle Gestalt der Haushälterin und den Pfarrer, die aus ihren Räumen in die Diele gekommen waren. Und während draußen die Gewehrkolben die Fäuste abgelöst hatten, hoffte das Mädchen, dass es den beiden geliebten und verehrten Menschen gelingen möge, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und dem Spuk da draußen ein Ende. „Nein, wir machen nicht auf“; hörte es jetzt die Haushälterin sagen, und es glaubte, die Furcht aus der Stimme zu hören, wie es sie selber hatte.

Keine Forderung an die stete Hilfsbereitschaft in der Vergangenheit war imstande gewesen, die Instanz der Pfarre so rat- und fassungslos zu machen wie dieser Moment der brachialen Kolbenschläge auf die Würde und den Frieden dieses Hauses.

„Die schlagen uns die Türen ein und dann wird es arg“, sagte die Mutter und entschlossen, oder mit dem sprichwörtlichen Mut der Löwin, die um ihre Kinder kämpft, öffnete sie die Innentür. Bevor sie aufschloss und mit einem einzigen Ruck die Außentür aufriss, streifte sie rasch ihren goldenen Ehering ab. „Was gibt’s?“ schrie sie gegen die geballte Macht. Wie’s auch war, die lauten Worte verfehlten die Wirkung nicht; jedenfalls war mit einem Schlag Ruhe. Ein Gesicht löste sich aus dem Schatten und forderte mit der Geste des Schlafenwollens „Quartier“. Das Wort „Quartier“,  wie eine Erlösung war’s. Sie wollten anscheinend nicht plündern, gewalttätig werden oder Schlimmeres tun, sie wollten nur schlafen. Zwölf Plätze höchstens könne man einrichten. Und da war sie wieder, die Gastfreundlichkeit und Einsatzbereitschaft dieses verlässlichen Hauses und funktionierte. Für Einquartierung erbat man sich „gute Leute“, und der späte nächste Morgen versammelte zwölf ausgeschlafene und gut gelaunte Russen am erweiterten Frühstückstisch. Während die Haushälterin mit der jungen Mutter die mitgebrachten Eier zubereitete, zogen die Soldaten die Kinder auf ihre Knie. Sie brachten ihnen russische Worte wie Mamuschka, Papuschka und andere bei und ließen sie unter schallendem Gelächter und Gejohle repetieren.

Die Mädchen verließen jetzt die unteren Räume nicht mehr. Sie machten es sich auf der Fensterbank der Kanzlei bequem, freuten sich über das Pferdchen vorm Fenster, neckten scheu einen blatternarbigen russischen Burschen, der, kaum dem Kindesalter entwachsen, seiner Ziehharmonika fremdartige Weisen entlockte. Und als plötzlich ein paar Kekse ins Zimmer fliegen, da wird offenbar, dass die braunen Uniformierten nicht unbedingt „Barbaren“ sind.

Aber diese Annahme war nur bedingt, und der spätere Vorfall macht schnell deutlich, wer hier der Verlierer des Krieges war. Während die Russen zum Abmarsch rüsteten, kam einer von ihnen zurück und forderte unmissverständlich die Uhr des Pfarrers. Dieser aber, der bereits mit Erfolg seinen Messwein verteidigt hatte, lehnte das Ansinnen entschieden ab. Der Russe ließ aber nicht locker und bot dem Pfarrer eine Ersatzuhr an, wofür er seinen bis zum Ellenbogen beuhrten Unterarm freimachte.
Doch der Pfarrer dachte nicht daran, auf diesen obskuren Handel einzugehen und sich von seiner Primizuhr zu trennen. Es entstand eine wilde Rangelei, die zu eskalieren drohte, als der Russe seine Pistole zog. Die Mutter der Kinder aber ahnte die Gefahr und redete auf den Pfarrer ein: „Um Himmelswillen, geben Sie dem die Uhr, der macht Ernst“. Und die Uhr wechselte ihren Besitzer wie die Farben der Fahnen draußen, die jetzt blau - weiß - rot wehten.