Kleine Liebe
oder
Natürlich
sieht man es nicht gern, wenn die beiden Kinder im Alter von 5 und knapp 8
Jahren, die seit einiger Zeit umständehalber evakuiert in der Pfarre in
Gießhübel leben, sich allzu oft auf dem kleinen Bergfriedhof zu schaffen und am
Beinhäusel Grusel machen. Auch mag manche Stirn sich runzeln über das
ausgeprägte Interesse, insbesondere des älteren der beiden Mädchen, am und im Kirchlein
Maria Magdalena.
Aber alle
Ermahnungen und Erklärungen seitens der Mutter dieserhalb machen das
sakrosankte Territorium nur noch verlockender. Zudem birgt das Gotteshaus eine
für das Mädchen nicht zu schätzende Kostbarkeit, das es geradezu unwiderstehlich
macht. Und immer auch hat man von den beiden Seitenfenstern des Obergeschosses
des Pfarrhauses die einladende, giebelgedeckte Magdalenenstiege im Blick, die
„wie eine Himmelsleiter“ hinaufführt zur Ewigkeit und Seligkeit. Und da die
Kirche zur Pfarre gehört oder umgekehrt, nimmt das Kindertreiben seinen Lauf
bis zu jenem Tage im Spätsommer 1944, den das Mädchen sich so herrlich gedacht
hatte.
Zufrieden
steht es vor der Stiege. In seinem Kittelschürzchen klimpern zwei Münzen. Von
geringem Wert zwar, waren sie doch ohne Angabe eines Verwendungszweckes schwer
zu erheischen gewesen. Dem steinernen Gekreuzigten zur Linken, um dessen
Erlösermission es noch nicht weiß, schenkt es einen leisen Gruß und überwindet
rasch die Stufen. Oben angekommen, passiert es das schwere hölzerne Tor, das
die Magdalenenstiege abschließt, und steht nun unmittelbar auf dem Friedhof,
dessen Ruhestätten sich teilweise nahe an das Gotteshaus drängen. Es huscht an
den Gräbern vorbei und durch den Seiteneingang von Maria Magdalena. Dies ist
nicht die Zeit der Gläubigen - und so recht für sein Vorhaben. Mit einem ersten Blick zum Altarraum
vergewissert es sich, ob dort nicht etwa wieder ein Sarg aufgebahrt ist,
nachdem es vor einiger Zeit unvermittelt vor einem solchen gestanden und in panischem Schrecken geflohen war.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nunmehr alle Heiligenfiguren zu
betrachten, Inschriften zu buchstabieren und dann lange vor dem großen Bild der
blauen Madonna mit dem sonderbaren Riemenschuh am rechten Fuß zu verweilen,
geht es heute direkt auf den Abschluss und Höhepunkt seiner allweiligen
Rundgänge zu.
Dort an der
Längswand des Kirchenschiffes auf einem kleinen Betgestühl befindet sich in
Augenhöhe des Kindes ein Opferkasten. Hüter und Wächter des Gabenkastens ist
ein allerliebstes, dunkles Figürchen von besonderem Reiz – ein kleiner Mohr mit
rabenschwarzem Haar, das sich im Nacken lockt. Mit einer ärmellosen, weißen
Tunika bekleidet, besetzt er mit verschränkten Beinchen das Kästchen ganz und
gar. Zu lieblich erscheint dem Kind das Kleinod, und da ihm dergleichen noch
nie begegnete, ist es bei jedem Besuch mehr fasziniert. Längst hat das Mädchen
für sich beschlossen, der Mohr müsse der größte Schatz in Maria Magdalena sein,
größer noch als die herzigen Putten, die so unerreichbar und selbstvergessen
auf dem Baldachin der Kanzel lümmeln, bedeutender vielleicht auch als die blaue
Madonna, die unter gesenkten Augenlidern nur Blick zu haben scheint für den
wonnigen , blonden Knaben auf ihrem Arm, der mit seiner dicken, goldenen Kugel
spielt - obwohl das Bildnis im Gottesdienst, vom Lichterkranz umstrahlt, zum
Niederknien schön ist. Doch dann gehörte die Kirche den Erwachsenen, und das
Mädchen ist lieber in ihr allein.
Verlieren
sich mal Kinder aus dem Ort ins Gotteshaus, um das Geheimnis des dunklen Ganges
hinter den Portieren im Altarraum zu erkunden oder gar einen unerlaubten
Schritt in die Sakristei zu wagen, dann ist das Mädchen froh, wenn sie am
Mohren achtlos vorbeischlendern; es möchte seine kleine Liebe mit niemandem
teilen.
Der Mohr,
so hat man ihm gesagt, sammle für die Heidenkinder. Ein Heidenkind, was immer
das war, etwas Ähnliches war das evangelische Mädchen in dieser katholischen
Umgebung irgendwie auch. Aber nachdem der freundliche Pfarrer und die überaus
liebenswerte Haushälterin ihm einen Namenstag – direkt nach dem Namenstag der
Kirchenpatronin – gegeben und mit einem Geschenk bedacht hatten, war das sicher
in Ordnung so.
Der Mohr,
das hatte man ihm versichert, würde sich für jede Gabe mit dem Nicken seines
Köpfchens bedanken.
Nun fingert
es ein Geldstück aus seinem Kitteltäschchen und wirft es aufgeregt in den
Opferkasten, wo es verrollt. Gebannt blickt es auf den Mohren, der aber keine
Notiz von der Gabe nimmt. Sicher war es zu wenig, und schnell wirft es die
zweite Münze hinterher, was vom Kästchen mit einem hölzernen Echo bestätigt
wird. Nicht aber von dem Mohren. Ungerührt bleibt er angesichts des Opfers. Und
während das Kind auf nur eine winzige Reaktion wartet, steigen Enttäuschung
über die scheinbar vertanen Münzen und kindlicher Unmut ob der Undankbarkeit
des Mohren in ihm auf. Schließlich fasst es den Kopf des Mohren zwischen
Zeigefinger und Daumen und führt ihn hin und her und hin und... der Schreck
fährt ihm jäh in die Glieder. Entsetzt starrt es auf das nunmehr losgelöste
Köpfchen, an einem Draht hängend, in seiner Hand. O weh, o weh! Was hat es
angerichtet!? Als es begreift, stopft es das Köpfchen in die klaffende Öffnung
des kleinen Torsos zurück.
Langsam
wendet es sich. Hat jemand die Untat bemerkt? Letztendlich wagt es einen
scheuen Blick zur Ampel mit dem ewigen Licht. Dort weiß das Kind einen Geist.
Ein Geist, viel bedeutsamer und mächtiger als jener Berggeist im fernen
Riesengebirge, auf den es auf seinen langen Schulwegen im ersten Schuljahr
nicht einmal zu denken gewagt hatte. Aber ruhig brennt das rote Licht der
Ewigkeit entgegen. Nichts und niemand scheint von dem Kirchenfrevel Kenntnis
genommen zu haben. Nur von den steinernen Fliesen des Bodens steigt eine
feuchte Kühle auf und fröstelnd schleicht es hinaus.
Wilde
Gedanken quälen es bis zum Haus. Was wird sein, wenn das bekannt wird? Sicher
darf es dann nicht mehr in die unteren Räume des Pfarrhauses, wo ihm immer
Gutes zuteil wird. Was wird die Mutter sagen, die Wert darauf legt, dass man
alle Gastfreundlichkeit dieses Hauses nicht überzieht? Und was wird in der
Schule...?
Unbemerkt
erreicht es die obere Etage. Lange kann es die vermeintliche Schuld nicht
alleine tragen und so beichtet es der Mutter. Aber anstelle einer Zornesfalte
oder gar Traurigkeit überzieht ein wissendes Lächeln das liebe Gesicht. Und mit
einem einzigen Satz: „Das Ding tut’s schon lange nicht mehr“, erlöst sie das
Kind aus seiner Not, wenn auch die Bezeichnung „das Ding“ für seine kleine
Liebe etwas schmerzt. Aber die Kinderwelt ist wieder heil und soll es für eine
Weile noch bleiben.