Ein weiter Weg

M.Kirschner

 

Als Schulkind musste ich des öfteren den weiten Weg von Untergießhübel bis Obersattel zu unserer Schneiderin, Frau Wanschura, zurücklegen. Mutter schickte mich mit dem Stoff zu ihr. Wenn das Kleidungsstück fertig war, musste ich es abholen. Frau Wanschura war über viele Jahre unsere Schneiderin. Sie hatte auch in den Nachbarorten Sattels ihre Kundschaft. An ihrer Nähkunst gab es nichts auszusetzen. Alles wurde zur Zufriedenheit der Frauen angefertigt. In der neuen Heimat vermissten wir ihr handwerkliches Können sehr.

Ich erinnere mich, dass ich die weite Wegstrecke zu ihr allein zu Fuß gehen musste. Im Winter ging es schneller, wenn ich mit den Skiern fuhr. Stoff und Geld trug ich in einem kleinen Rucksack.

Um der Langeweile des Weges entgegenzuwirken, setzte ich mir Zielpunkte: Von zu Hause aus schlug ich den Weg über die Felder bis zur Wölfei ein. Der kurze Gang durch den Wald war immer etwas unheimlich. Ich schaute ängstlich nach links und nach rechts und beschleunigte meine Schritte. War ich dann auf der Straße nach Pollom, atmete ich auf. Nun steuerte ich auf die Pollomer Schule zu. War diese hinter mir, musste ich noch ein ganzes Stück zum „Sattler Päschla" (ein Wäldchen) marschieren. Das nächste Ziel war die Sattler Kirche. Dann ging es an der Schule vorbei und die Dorfstraße entlang bis zum Haus der Wanschuras. Dort wurde in der großen Stube fleißig gearbeitet. Die Meisterin schnitt zu, passte an und kontrollierte die Arbeit der Mädchen. Ich verweilte immer etwas, um mich auszuruhen. Dann wanderte ich wieder heim.

Einmal konnte ich Herrn Wanschura beim Anfertigen eines Seiles beobachten. Er hatte es durch die ganze Stube gespannt. Dann drehte er die einzelnen Teile zu einem dicken Strick. Wie schnell das ging!

Durch die Beobachtungen in der Schneiderstube angeregt, bekam ich Lust, auf unserer alten Nähmaschine zu nähen. Bald konnte ich gerade Nähte ziehen und kleine Wäschestücke ausbessern.

Bei einem Besuch in der Heimat in den achtziger Jahren fuhren wir den Weg von Gießhübel nach Sattel und zurück. Mein Mann und unsere Enkelin staunten, dass ich als Kind so weit laufen konnte.

Ich kann mich nicht erinnern, dass mir solche weiten Wege zu viel waren oder meiner Gesundheit und Entwicklung geschadet hätten.